© Thomas Kampmann ./. ART & carlfunkel

Bücherkiste 2018

Meine Lieblingsbücher 2018:

"Hochdeutschland" von Alexander Schimmelbusch
und "Amerika auf der Couch" von Alan Francis


Wer wir waren
Roger Willemsen, verlag Fischer

Roger Willemsen war ein Guter. Ein Philosoph und Moderator, Meister des geschliffenen Satzbaus und noch wichtiger, des analytischen Inhalts. Leider seit 2016 tot. Sein letzter Text liegt nun als Redemanuskript vor und hat mich nachhaltig beeindruckt. Die Grundidee, aus einer nicht allzu fernen Zukunft, auf unser Leben heute zu blicken, ist entlarvend komisch wie leider furchtbar richtig. Zum ersten Mal werde ich hier nicht eine Kritik schreiben, sondern hier meinen zeitparadoxen Text veröffentlichen, den ich, weil es halt die Idee von Roger Willemsen war, auch diesem widme:

Link (.pdf): Als ich Hundert war
© Fred Ape 2018

 

Slow horses
Mick Herron, verlag Diogenes

OK, der Buchhändler meines Vertrauens meinte, das wäre was für mich. Na ja, nicht schlecht auf jeden Fall, zumindest erinnerte mich die Szenerie an vertrautes Terrain aus der Feder eines Arne Dahls oder Adler – Olsen. Habe ich immer gerne gelesen. So Sondereinsatztruppen, die, aus welchem Grund auch immer zusammengesetzt, sich behaupten müssen. Gegen alles, was traditionelle Kriminalarbeit ausmacht. Diese Truppen werden, ob ihres Outlaw Wesens, immer misstrauisch beäugt und sollten sie mit ihren unkonventionellen Methoden Erfolg haben, beneidet. Diese neue Serie um den Chef Jackson Lamb der samt seinen „Abservierten“ (Klappentext) in einem Haus arbeitet, welches eher zum Naserümpfen taugt als das es Agenten seiner Majestät beherbergt. M15 heißt die Abteilung der Ausgestoßenen, die allesamt irgendeinen Knick in ihrer Karriere erfahren haben, sei es durch Alkoholmissbrauch oder falscher Einschätzung einer terroristischen Lage, die zwar nur eine Übung war, aber wäre sie tatsächlich so passiert, hunderte Opfer und einen Milliarden Schaden verursacht hätten. Wir sind bei der Ausgangslage des Romans: River Cartwright ist derjenige, dem dieses Dilemma widerfahren ist. Wobei er aber alles von sich weist, und meint, irgendeiner Intrige zum Opfer gefallen zu sein. Diese Arten von Intrigen durchziehen das ganze Buch. Hauptthema ist die Entführung eines jungen Pakistani, der von seinen Entführern fernsehgerecht vorgeführt wird und mit der Androhung des Köpfens noch 72 Stunden Zeit zu leben hat. Und alle Welt guckt live zu. Auch das Team von M15. Und nach und nach mischen sie sich ein, quasi bis zum bitteren, oder sagen wir, glücklichen Ende. Das will ich hier nicht verraten. Allerdings so viel: die Hälfte des Romans thematisiert die Schicksale der einzelnen Mitglieder sehr breit. Man muss sich halt kennenlernen. Ob es im Regent‘ s Park, der Geheimdienstzentrale in London, wirklich so bescheuert zugeht, sei mal dahin gestellt. Doch Mick Herron hat einen guten Anfang gemacht. Man kann sich an den schrulligen, bärbeißigen, muffigen, fetten Jackson Lamb als Chef und an sein Team mit Sicherheit gewöhnen. Ähnlich wie beim A-Team von Arne Dahl oder Adler Olsens Abteilung für ungelöste Fälle.

 

Die Hauptstadt
Robert Menasse, verlag Suhrkamp

Junge, Junge! Da hat er was geleistet, der gute Robert. Alles drin: von Verschwörung bis Krimi; von politischer Kleinstaaterei bis zur europäischen Idee; vom religiös motivierten Killerkommando bis hin zum zentralen Thema: Ausschwitz. Vom Altenheimalltag bis zu einem nahezu kollabierenden belgischen Kommissar, der nicht aufgeben will; vom schweren Unfall - mit Bruder zu Bruder Komplex - zu den Flüchtlingstrecks aus Südost! Durch diese ganzen Handlungsstränge galoppiert ein Schwein durch Brüssel, katappert durch die Hauptstadt. Und bei dem Schwein weiß keiner, wo es hergekommen ist und wo es im nächsten Moment auftaucht. Diese kuriose und absurde Schweinegeschichte macht schon Spaß, soll vielleicht eine Art Metapher sein – denn grad am Thema Schwein, entlarvt sich die bürokratische Unfähigkeit, Europa mit einer Stimme sprechen zu lassen. Ich will dieses Buch nicht empfehlen, da soll jeder seine Schlüsse ziehen. Ich weiß, dass es, obwohl mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet, auch kritische Stimmen gibt. Denen schließe ich mich eher an, denn nähert man sich dem Ende des Romans, werden die eingeführten Figuren, auch die, an die man sich gewöhnt hat, nach und nach weg gelassen, und es bleibt am Ende ein großes Fragezeichen.

 

Das Feld
Robert Seethaler, verlag Hanser

Lasst Blumen sprechen. Irgendeine Werbung von früher…Fleurop, oder so. Doch hier sprechen die Toten, also die, die unter den Blumen liegen. Es sind die Toten einer Kleinstadt, die auf dem örtlichen Friedhof begraben sind und die ihre, oder zumindest Teile ihrer Geschichte erzählen. Manche sind kurz, manche eindringlich, manche vor Absurdität kaum zu toppen. Oftmals sind die Schicksale miteinander verbunden, und manche sterben jung, zu früh, andere wiederum zu spät. Ich kann mir vorstellen, dass Robert Seethaler auf seinen Leserreisen leichtes Spiel hat, denn er kann irgendeine Seite aufschlagen und vorlesen, was eine oder ein Toter zu erzählen hat. Die unterschiedlich langen Erinnerungen sind alle gut skizziert, stehen für sich. Trotzdem hat das Buch eine gewisse Traurigkeit, natürlich. Der Tot ist halt nicht lustig. Aber ich muss sagen, sein letztes Erfolgsbuch „Ein ganzes Leben“ hat mir eine Spur besser gefallen!

 

Altes Land
Dörte Hansen, verlag knaus

Normalerweise bin ich ja immer skeptisch, wenn auf der Spiegelbestsellerliste monatelang, oder in diesem Fall fast zwei Jahre, ein Buch führt. Also wie gesagt, lass ich die Finger von. Da ist oft echt Schrott dabei, warum auch immer. Nun hatte ich die Gelegenheit im Regal eines Freundes in dessen Haus ich in diesem Sommer ein paar Tage verbringen durfte, eben „Altes Land“ zu finden. Also bin ich angefangen. Denn normalerweise liest „der“ kein Schrott. Und siehe, ich war echt überrascht. Ein sehr, sehr gutes Buch. Fein gezeichnete Charaktere. Ein Flucht – und Frauenbuch über drei Generationen. Mit teilweise hoch kabarettistischen Momenten, aber auch mit todtraurigen Entfremdungen und Verlusten - aber immer auf der Suche nach dem Glück. Ein großes Plus dieses Romans ist die Sicht der Dinge, die Subjektivität der Wahrnehmung einer objektiven Begebenheit, die eben höchst unterschiedlich gesehen oder interpretiert wird. Sehr lesenswert.

 

Treffen sich fünf Flüsse
Barney Norris, verlag Dumont

Ein sehr trauriges Buch. Aber verdammt gut. Salisbury ist der Ort in England in dem sich nicht nur die besagten Flüsse treffen, sondern es ist auch der Ort eines Mopedunfalls. Dieses Geschehen wird von unterschiedlichsten Menschen gesehen, erlebt, bewertet oder sogar herbeigeführt. Fünf Schicksale kollidieren, und alle gehen einen eigentümlich nah. Es ist letztendlich die Eindringlichkeit mit der Barney Norris seine Figuren zeichnet. Ein Roman über Einsamkeit, Alkoholmissbrauch, Projektionen, Träumen aber vor allem kleine und mittlere menschliche Katastrophen, in die man selbst bitte nicht hineintappen will. Aber wir leben alle nicht in Sicherheit und müssen zusehen, wie wir klar kommen. Das Leben ist immer auch Drama!

 

Im Kern eine Liebesgeschichte
Elisabeth McKenzie, verlag dumont

Paul und Veblen, naja, man fragt sich das ganze Buch lang, was die beiden eigentlich zusammengebracht hat oder noch eher, was die eigentlich noch zusammenhält? Man wünscht bei all dieser offensichtlichen Unterschiedlichkeit eher, wann platzt die Blase? Aber nein, es werden sogar Hochzeitspläne gemacht. Und das bei Widerständen die nicht von Pappe sind. Einerseits sind da Eltern und Schwiegereltern zu handeln, was ganz und gar in die Hose geht und vor allem sind es Dinge, wo Paul und Veblen, sich selbst im Weg stehen. Sie ist eher esoterisch unterwegs, weil, sie kann sogar mit Eichhörnchen sprechen, (was auf Dauer nervt) und ist hypochondrisch veranlagt. Er, ein Arzt und erfolgreicher Neurologe in der Forschung, der pragmatisch und forsch seine Ziele durchsetzen will, (er hat eine Art Druckentlastung für Schädelhirntrauma entwickelt, die echt einfach zu handhaben sei, also auch für die Armysanitäter im Feld) der aber auch sein familiären Restposten zu bewältigen hat, die auf Dauer ganz schön nerven, wie sein leicht behinderter Bruder Justin. Ach ich weiß nicht, ich könnte noch mehr erzählen, aber insgesamt nicht so meins!

 

Warten auf Mr. Bojangles
Oliver Bourdeaut, verlag piper

Wieder so eine traurige Geschichte. Obwohl man könnte auch sagen, ein Drama mit komödiantischen Einlagen. Aber es ist verdammt schwer die Entwicklung einer Psychose mit leichter Hand zu erzählen. Bei allen lustigen, schrillen Cocktailpartys, und den unendlichen, melancholischen Tanzgedrehe zu der Nina Simone Interpretation von „Mr.Bojangles“, bleibt von Anfang an dieses Unbehagen, welche so eine manisch-depressive Erkrankung schon von Weitem erzeugt. Der Autor versucht uns das Leben leicht zu machen, mit den charmanten Charakteren und witzigen Übertreibungen. Letztendlich verschlägt es die Kleinfamilie in ein Art Schloss, so nennen sie es, an die Costa Brava. Hier geht es noch einige Zeit gut, aber das dicke Ende naht. Und der Junge schreibt es auf. Und wie hat er seine Eltern verehrt und geliebt! Tragisch, traurig alles, aber originell in der Darstellung. Empfehlenswert.

 

Das Leben des Vernon Subotex 3
Virginie Despendes, verlag kiwi

Ich bin ganz ehrlich: der erste Teil hat mich echt umgehauen. Einsame Klasse. Der zweite Teil hat mich überrascht und der dritte Teil, da sage ich jetzt: na gut. Wenigstens gibt es keinen Vierten. Weil ich diese Atemlosigkeit des ersten Bandes nicht wieder gefunden habe, erst nicht im zweiten Teil und im Dritten schon gar nicht. Trotzdem ist es natürlich wieder in Teilen riesig: Sätze wie in Stein gemeißelt. Mit einer weltwissenden Schärfe und Analysekraft wird unsere Gesellschaft seziert und brillant zerlegt. Ich komme allerdings mit den vielen, immer mehr werdenden Figuren nicht mehr klar, die sich irgendwie um den nunmehr eher als Guru in Erscheinung tretenden Vernon, versammelt haben. Vernon Subotex tritt immer weiter in den Hintergrund, wird zum esoterischen Satelliten, der in den Gedanken seines Gefolges kreist. Und wenn er mal einen Auftritt hat, dann bleibt es marginal. Aber jede andere Figur die jetzt in den Vordergrund tritt, auf Kosten des Rücktritts von Vernon, wird ausführlich charakterisiert. Und die im zweiten Teil aufgebaute Gruppe die sich um Vernon, nach seiner Rettung aus dem Sumpf, gescharrt hat, fällt auseinander. Da können auch die sogenannten „Convergences“ (eine Art Trance in die man fällt, weil Vernon absolut genau weiß, was er aufzulegen hat) nicht mehr helfen. Die „Paris Attentate“ aus dem Jahr 2015 lassen auch alle unsere Protagonisten rat- und planlos zurück. Mich auch!

 

Unter der Haut
Gunnar Kaiser, verlag Hanser

Tja, ich kann mich nicht in den Reigen der Lobhudeleien einreihen, sagen wir, ich bin eher frustriert. Aber fangen wir mal mit dem an, was mich so unberührt lässt, und das „Berührtsein“ sollte ja der Sinn einer guten Geschichte sein. Ich konstruiere mal folgendes Szenario: treffen sich zu einem geheimnisvollen literarischen Zirkel folgende Weltbestseller in Persona: Michael Köhlmeier (z.B. Joel Spazierer), Carlos Ruiz Zafón (Der Schatten des Windes), Christoph Ransmayr (Die letzte Welt, Cox oder der Lauf der Zeit) und Umberto Eco (Der Name der Rose). Erwarten könnte man noch Patrick Süskind, als Experte für pathologische Sucht nach Erfüllung und Philip Roth und/oder Paul Auster für die Schattenseiten von New York. Der kleine Gunnar Kaiser sitzt unter dem Tisch, wenig beachtet von dem illustren Kreis, und notiert sich heimlich die Stichworte der Herren Monsterliteraten, die den Roman der Romane diskutieren. Inhalt: das Buch als Gesamtkunstwerk, als quasi göttliches Wesen, von außerirdischer Schönheit, unbezahlbar und deshalb von unbezähmbarer Gier gejagt. Nicht nur das Wort zählt, der Einband ist genauso entscheidend. Tja und leider fängt Gunnar dann tatsächlich an, diesen Roman zu schreiben, den die oben genannten (fast-) Nobelpreisträger, sicher nicht so geschrieben hätten - mal vorsichtig gesagt. Was mir Gunnar Kaiser vermittelt, ist folgendes: ich weiß nichts. Ich kleiner literarisch, philosophisch interessierter Mensch, werde hier geistig zertreten. Zugetextet von einem unglaublich enzyklopädischen Weltwissen der Literaturgeschichte. Muss ich mir das bieten lassen? Nein, denn wenn man mal den Roman von Sprachstil, Wucht und Atmosphären, befreit, bleibt am Ende des Tages eine Rippergeschichte (Hier „Skinner“ weil es geht ja „Unter der Haut“ weiter). Psychopathologischer Mordwahn, um eine im Grunde nicht erfüllbare Sucht zu befriedigen. Und da alles im geheimnisvollen Dunkeln bleiben muss, passiert auch das meiste genau dort! Langsam durchschaut von unserem wackeren, aber immer schwankenden jungen Jonathan Rosen, der im Banne von Josef Eisenstein, um den sich hier alles dreht, die entsetzliche Wahrheit erfährt. Vom Leser allerdings schon früh erahnt. Die Krankheit nennt man wohl in diesem Fall Bibliophobie, also um frei von jeder Empathie rumzumorden um ein Ziel (z.B. hier das Buch der Bücher) zu erreichen! Und derlei Themen kennen wir aus der Literaturgeschichte schon genügend, nur besser. Und nicht so aufgeblasen und ich hasse es, wenn man mir mit akademischen Titeln Wissenssammlungen um die Ohren haut.

 

Helden der Nacht
Karl Wolfgang Flender, verlag dumont

Es ist schon mutig, nach dem Vorbild oder im Stile von Dashiel Hammet und/oder Raymond Chandler zu schreiben. Das wird schwer, das liegt in der Natur der Sache. Ist es den altvorderen Kriminalliteraten eigentlich immer gelungen, seinen Detektiven ein klares Profil zu geben, auf das man sich verlassen konnte. Am Ende des Falles kommt noch eine letzte Kurve und Philip Marlowe schaut irgendeiner Frau in die Augen, und der Fall war eigentlich gelöst und dann wieder nicht. Denn richtig glücklich war Marlowe nie, denn die ganz großen Haie, haben sich doch immer wieder raus gewunden. In etwa versucht Karl Wolfgang Flender dem gerecht zu werden. Herausgekommen ist eine zu Anfang noch nachvollziehbare Story eines vor dem Ruin stehenden Detektivbüros, vertreten durch den Junior Bryan Auster und einer Kriminalkommissarin namens Colleen McCollum. Und schon kommen erste Irritationen, bzw. ich habe nicht verstanden, warum Auster seine Sicht der Dinge im Imperfekt erzählt und Colleen immer in der Gegenwart. Außerdem irritiert, dass man lange Zeit gar nicht weiß, wo man eigentlich ist. Der Autor gibt den Beteiligten amerikanische Namen und man wähnt sich in der Falle, weil man nicht weiß, sind wir in New York oder in Berlin. Thematisch nimmt Fender die ganze unsägliche Gegenwart mit: ein mit der NSU vergleichbarem Pärchen das –im Auftrag für was auch immer – rituell mordend durchs Land zieht und eine Art Reichsbürgerwehr, paramilitärisch organisiert, kommt auch drin vor. Ferner die allgegenwärtigen fakenews Algorithmen und der Computer - Nerd, der das ganze durchschaut und kräftig rumhackt. Bryan und Colleen bestimmen die Story, die ausgehend von einem Verarscheportal namens „sidestep“, wo der nicht nachweisbare Seitensprung das Geschäftsmodell ist, und verstricken sich immer mehr in dem Fall, wobei die Verschwörungstheorien sich die Klinke in die Hand geben. Zum Ende kommt alles noch zu einem James Bond Finale und der Superbösewicht zeigt den beiden Antihelden, wie er die Welt beherrschen will. Ich beherrsche mich auch und lege das Buch zur Seite, das ich nur bedingt empfehlen kann.

 

Transit
Rachel Cusk, verlag Suhrkamp

Deprimierend gut, so würde ich einleiten, wenn man mich fragen würde. Ein existenzphilosophischer Roman, eine Spiegelung menschlicher Dramen und einer Traurigkeit der Welt. Aber es ist schön, mal wieder so geerdet zu werden. Vielleicht beobachtet man die Menschen nach diesem Buch mal wieder etwas genauer, hört intensiver zu und vergleicht sein eigenes Leben bzw. kann es vielleicht besser einordnen. Rachel Cusk ist ein Roman gelungen, das einen innehalten lässt, wie selten. Es steht ganz im Widerspruch unserer heutigen „Alles gut“ – Antwortrealität, wobei man genau weiß, das stimmt bei keinem von uns. So ist das Leben nämlich nicht angelegt. Eher umgekehrt, erst mal ist alles Scheiße und man muss sich täglich stellen. Dem einen gelingt es besser, der andere driftet ab. Rachel Cusk legt eine Melancholie über das Dasein, eine Schutzlosigkeit die vor allem in der Beschreibung ihrer im Keller wohnenden Mitbewohner gipfelt. Man denkt unwillkürlich an menschliche Ratten, wobei ich der Ratte an sich ja die Lebensberechtigung nicht abstreiten will. Irgendwer wird sich schon was dabei gedacht haben. Tolle Übersetzung im Übrigen von Eva Bonné!

 

Die schreckliche Wirklichkeit des Lebens an meiner Seite
Christoph Höhtker, verlag Ventil

Wer sich in der deutschen Kleinkunst – und der satirischen Autorenszene einigermaßen auskennt - und ich meine, ich habe da einen relativ guten Draht - dem sind die Namen Dietmar Wischmeyer oder Wiglaf Droste ein Begriff. Da wird „kein Blatt vor dem Mund genommen“ (hoho) und alles niedergetextet, was dem deutschen Kleinbürger, der Mittelschicht, der „…das darf man doch wohl noch sagen dürfen“ –Fraktion, der Kirche, der Politik sowieso…heilig ist. Vor denen ist niemand sicher. Und recht haben sie oft genug. Mit Christoph Höhtker habe ich nun jemanden entdeckt, der alles noch toppt! Am Beispiel Genf, der Schweizer UN-Metropole, wird unser bigottes Leben gnadenlos zerlegt. Zynisch und bösartig ist der Roman, aber auf der anderen Seite dabei noch unfassbar lustig. Unsere Degeneration wird perfekt beschrieben, eine Um- oder Abkehr nicht möglich und der UN Apparat wird als sinnlose gigantische Geldvernichtungsmaschinerie entlarvt . Und alle die noch daran glauben, denen ist eh nicht mehr zu helfen. Außer mit Sex, Drogen und Alkohol.
Und Frank Stremmer ist immer mittendrin und meldet direkt aus dem Zentrum der Macht: Vergesst Eure Träume von einer guten Welt! Die Sache ist längst gelaufen!
Wer heute noch unbedarft eine Betriebswirtschaftstudium anfängt, sollte zur Vorsicht erstmal „Die schreckliche Wirklichkeit des Lebens…“ lesen. Tolle Entdeckung!

 

Kampfsterne
Alexa Hennig von Lange, verlag dumont

Schon lange habe ich keinen Roman mehr gelesen, den ich gleich von Anfang an wieder weglegen wollte. Dieser Roman und ich, wir passen nicht zueinander. Dabei kenne ich das System, den Aufbau, die Produktion ganz gut. Denn hier geht es unter anderem um die Subjektivität des Erlebten, um die Relativität der Eindrücke. Ein und das gleiche Ereignis wird unterschiedlich interpretiert. Wir haben es mit drei Mittelschichtsehen zu tun. Es gibt einen Spontispruch, den ich für dieses psychopathologische und zweifelhafte Reihenhausvorortidyll leicht abgeändert habe: „In Gefahr und höchster Not, bringt die Mittelschicht den Tod“. Eltern und Kinder kommen abwechselnd mal länger mal kürzer zu Wort um ihre jeweilige Sicht der Dinge und den Lauf der Ereignisse zu kommentieren. Lexchen als eine Art Oskar Matzerath beschrieben, weil obwohl schon acht Jahre, sie anscheinend das Wachstum eingestellt hat. Vielleicht passt hier das Bild aus der Blechtrommel: Bei all dem Psychoscheiß um sie herum, das Wachsen einstellen, warum auch nicht. Aber Lexchen weiß allemal klug die Wirrnisse der Kleinbürgerlichkeit auf ihre naive Art treffend zu entschlüsseln. Rita, Ulla und Ella sind mördergestresste Mütter, die irgendeinem Bild entsprechen wollen, also nach außen glückliche Familie spielen, und innen zerfressen von Perspektivlosigkeit in Liebe und Leben. Auch pocht im Hintergrund immer eine homoerotische Wunde bei Rita und Ulla. Die Männer (Georg, Rainer und Bernhard – wie man so heißt in einer Reihenhaussiedlung der achtziger Jahre) sind entweder Loser oder hilflos gewalttätig oder sonst wie vollkommen irritiert. Am Ende passiert dann der jungen Siedlungsschönheit Constanze (Cotsch) was Schreckliches und der junge vom Aussehen eher nach Stephen Hawking kommende Johannes, hat seinen ersten, nicht selbst erzeugten Orgasmus.
Mögen das Buch andere feiern, ich würde es nicht mit gutem Gewissen verschenken.

 

Das Mädchen, das in der Metro las
Christine Féret-Fleury, verlag dumont

Das Büchlein reiht sich ein in solch wunderbar phantasievollen Geschichten wie „Sofies Welt“, „Die unendliche Geschichte“ oder auch „Der Schatten des Windes“ ohne jemals deren Klasse zu erreichen. Nun das wäre auch schwer genug, aber es liest sich doch wie ein leichtes Märchen und hat sicher nicht den Anspruch große Weltliteratur zu sein oder zu werden. Aber eben das Buch oder die Bücher stehen im Mittelpunkt. Zur Story: Juliette taucht, weil sie einmal traumtänzerisch zu früh aus der Metro aussteigt, ein in eine andere Welt. Eine Welt voller Bücher und schattenhaften Gestalten, die sich bemühen, den Leser und deren Haltung, Träume und Befindlichkeiten hinter den Büchern zu finden. Juliette hatte schon immer dieses Faible in der Metro auf ihrem langweiligen Weg zu einer langweiligen Arbeit, Menschen zu beobachten und sich Geschichten über diese Metroliteraten auszudenken. Und so führt uns ihr Weg in eine Art Zwischenwelt, wo Bücher noch einen besonderen Stellenwert im Leben der Menschen haben oder haben sollten. Sie gerät in einen wundersamen Buchladen und hilft nach und nach dem skurrilen Eigner samt seiner fast übersinnlich wirkenden Tochter, dieser Aufgabe nachzukommen: Menschen und deren Bücher im positiven Sinne nachzustellen um zu begreifen wie die Wege der Bücher laufen und welche Spuren sie hinterlassen. Christine Féret-Fleury führt uns in eine Welt, die so dramatisch anders ist als das, was wir im Moment an Realität kaum noch ertragen. Eben ein schönes Märchen, eine kluge Vorstellung, eine friedliche Phantasie.

 

Das weibliche Prinzip
Meg Wolitzer, verlag dumont

Dieses Buch liest sich wie ein gut geölter Motor der nicht stottert, oder irgendwelche besonderen Geräusche von sich gibt. Sollte also jemand sich sowohl gut unterhalten fühlen wollen als auch eine Einschlaflektüre suchen, dann ist man bei diesem Buch zu hause. Ein Genuss ohne Reue sozusagen, aber eben auch kein Knaller. Weil, außer eine Familientragödie, die unvermittelt die Lebenspläne eins der vier Hauptprotagonisten zerstört, passiert nicht viel. Das Buch läuft mit seinen ewigen Rückblenden wie an der Schnur gezogen vorwärts. Wir begleiten die anfangs schüchterne Greer Kadetzky auf ihren Weg. Dabei sind noch ihre Jugendliebe Cory und die homosexuelle Zee, die Greer an der Uni kennenlernt. Leicht in Fahrt kommt der Roman durch die frühe Begegnung von Greer mit der bekannten Frauenrechtlerin Faith Frank, die sie fortan nicht mehr los lässt und auch inhaltlich ihr Berufsleben bestimmt. Interessant sind die Ausflüge in die Historie der amerikanischen Frauenbewegung und ihre vorreitenden Zeitschriften wie „Bloomer“. Durch Umwege lädt Faith Frank Jahre später Greer ein, bei einer neuen Stiftung mitzumachen, deren Aufgabe als eine Art Agentur ist, Events mit den dazu gehörenden Prominenten, Moderatoren oder Rednerinnen zu organisieren bis hin zu Redenschreiben und dem dazugehörenden Marketingsegment. Ein Projekt geht dabei irgendwie aus den Fugen und Greer kann moralisch nicht mehr mithalten und sie kehrt erst zu Zee zurück, um mit ihr ins Reine zu kommen – da war noch was zwischen ihnen - und sich um Cody zu kümmern, der, wie gesagt, mit einer Katastrophe in seiner Familie überfordert ist. Also ein ewiges Auf und Ab – wie im richtigen Leben. Ein gut nachzuempfindendes Sozialgemälde mit dem Schwerpunkt auf Feminismus und Frauenrechte aus den letzten 50 Jahren in den Staaten. Aber insgesamt, das muss ich gestehen, habe ich „Das weilbliche Prinzip“ als Roman nicht so recht verstanden. Da fehlte irgendwas. Es fesselte nicht. Tut mir leid!

 

Die Mütter
Brit Bennett, verlag Rowohlt

Ein wohltuender Gesellschaftsroman aus dem Süden Kaliforniens, aus der „schwarzen“ Gemeinde Oceanside. Das Leben dieser Gemeinde wird genau von „den Müttern“ beobachtet und hier insbesondere das Leben der hübschen Nadia Turner, ihrer (naja) Freundin Aubray und Luke der zwischen den beiden steht, mal als Geliebter, sogar mal als Ehemann von Aubray aber auch als Erzeuger eines ungeborenen, abgetriebenen Kindes, was eben Nadia, noch blutjung, nicht austrägt. Darüber wird sie nie hinwegkommen, zumal Luke, sie unmittelbar nach der Abtreibung verlässt. Und Luke Sheppard ist Sohn des Gemeindepfarrers und der „First Lady“ (der Frau des Pastors) und die bezahlen sogar das Geld für die Abtreibungsklinik. Sehr kompliziert – denn genau das darf nicht rauskommen. Das Leben in diesem Ort wird bestimmt vom upper room, womit die Kirche und das Gemeindehaus gemeint sind. Die Kirche, das Beten, das Gerede unter den Müttern spiegelt die Sicht der Dinge und Hingerauntes wird vom fake zur Tatsache und umgekehrt. Es ist ein Mikrokosmos, aus dem Nadia fliehen will. Sie ist klug, studiert in Michigan Jura, kommt aber immer wieder zurück, zu offen sind die seelischen Wunden, die Betrügereien fangen von vorne an, als sie wieder mit Luke schläft und sie an ihrem schlechten Gewissen gegenüber Aubray fast erstickt. Über allem schwebt ein seltsamer Selbstmord von Nadia Mutter, eine unerklärliche Tat. Nie wird Nadia begreifen und verstehen, aber immer weiter nach dem Grund suchen. Ihr Vater kränkelt plötzlich und sie muss Verantwortung übernehmen. „Die Mütter“ hören und sehen zu und machen sich bei ihren geschwätzigen Kaffee - und Kuchen Nachmittagen Gedanken und blicken auch auf ihr eigenes gelebtes Leben zurück, das eben heute dem Glauben gehört. Die Geschichte endet irgendwann mit einer sich langsam und schwerfällig entzündenden Lunte, die aber unausweichlich ihrer Explosion entgegen kriecht! Endlich mal ein Buch aus Amerika ohne Trump oder irgendeinen anderen Scheiß aus dieser Richtung. Schon deshalb lesenswert.

 

Konklave
Robert Harris, verlag Heyne

Nicht, dass ich die Trachtentruppe im Vatikan jemals ernst genommen hätte. Dazu bin ich viel zu weit vom Klerus entfernt und versuche eher, einen gewissen Humanismus zu leben, bin Darwinist und fast schon Atheist. Das hindert mich aber nicht, sprachlos vor Staunen durch den Vatikan zu stolpern, denn die Augen sind immer irgendwo und nie am Boden um schließlich in der sixtinischen Kapelle nur noch nach oben zu gucken. Eben Michelangelo. Dass Menschen in der Lage sind, so ein Bauwerk, solche Gemälde zu erschaffen. Eigentlich unfassbar. Und für was?
Trotz allem legt Robert Harris eine spannende Geschichte über eine Papstwahl vor und vergnügt lernt man, bei aller Spannung die grade Harris in der Lage ist, zu vermitteln, wie denn so eine Konklave eigentlich abläuft. Also inner circle sozusagen. Und vor allem liest man genüsslich, dass es (als wenn wir es nicht vorher gewusst hätten) bei den Jungs mit den bedenklichen Hüten und Umhängen auch nicht anders zugeht, wie im richtigen Leben: Machtkämpfe, Mobbing, Sex, Lügen und hast Du nicht gesehen. Alles dabei. Eine gute Urlaubslektüre, da macht man keinen Fehler, dass Taschenbuch einzupacken. Am Ende wirkt das Ganze dann doch etwas zu sehr gedrechselt, aber bis dahin haben wir viel gelernt, vor allem vom sympathischen Kardinal Lomeli – der bei aller Frömmelei – einen kühlen Kopf bewahrt. Garniert wird das Ganze durch unbestechliche Fakten, die Harris wieder mal exzellent recherchiert hat! Wie zum Beispiel die Geschichte vom schlampig einbalsamierten Papst Pius der XII, der während seiner Trauerfeier 1958 mit samt seiner eigenen Faulgase, explodierte!

 

Hochdeutschland
Alexander Schimmelbusch, Hochdeutschland, verlag Tropen

Ja! Ja! Ja! Und alle Sterne und meinetwegen den deutschen Buchpreis, oder was immer! Schimmelbusch ist es mit Hochdeutschland gelungen, die Absurdität unseres Daseins, unser Leben im Deutschland des Spätkapitalismus, den Widersinn unserer eigenen Vorstellungen, die Obszönität der Hure Geld, etc., endlich richtig zu verorten und klarzustellen. Wir leben in einer unglaublichen Dynamik, voller bescheuerter Ideologien und sonstigen Dummheiten und der Zug rast, voll mit frohgelaunten, feierwütigen deutschen Kegelbrüdern und quiekendem Wellfleisch auf Junggesellinnenabschied, dem Abgrund entgegen. Victor ist erfolgreicher Investmentbanker in einem Frankfurter Glaspalast und bleibt trotzdem auf wundersamer Weise das ganze Buch durch sympathisch.
Er reitet gekonnt auf hohem Ross durch das Durcheinander der deregulierten Märkte und der Sackgasse des Neoliberalismus und macht damit so unvorstellbar viel Geld wie auch jetzt wieder mit dem Gespür, dass was anders werden muss, bis hin zur verdeckten Verstaatlichung zum Beispiel der Energiewirtschaft. Da geht er bei einem dieser Projekte einem Minister zur Hand, dessen Traum es ist, irgendwann mal in Mailand mit einem Ferrari durchzustarten. Das ist feinste Satire. Victor bewohnt eine Villa im Taunus, eher ein neuzeitliches Schloss, ist natürlich geschieden aber unsterblich verliebt in seine sechsjährige Tochter Victoria. Bei allem Erfolg, auf der für normal Sterbliche Metaebene es Mammons, bleibt da in seinem Wesen ein Ungleichgewicht. Eine unbefriedigte Sattheit die kein Weißwein für 2600€ oder sonst ein Gourmet Menü im Hotel Adlon begradigt. Der Liebe hat er abgeschworen und weiß allerdings immer, wo und mit wem er seine sexuellen Bedürfnisse aufs Feinste befriedigen kann. Am Anfang denkt man gleich an de Caprio und Wolf of Wallstreet. Aber Vorsicht, Glatteis. Victor ist tatsächlich ein Mensch und er findet immer wieder eine Art Balance, in dem er quasi inkognito aus seinem Bankerdasein verschwindet und auf „der anderen Seite der Welt“ in Berlin aufschlägt und dort eine unauffällige Wohnung hat. Hier trifft er sich ab und an mit Ali Osman, einen alten Kumpel und jetzt desillusionierter Abgeordneter der Grünen. Sie ziehen um die Häuser und spiegeln die Gegenwart im Lichte spelunkenhafter Bars und leerer Biergläser.
Und irgendwann, in der Mitte des Buches, oder anders ausgedrückt, auf dem Höhepunkt seiner Langeweile und seiner Einschätzungen, dass alles „so nicht weiter gehen kann“ setzt er sich hin und schreibt ein Manifest. Und das hat es in sich.
Hier habe ich keine Superlative mehr zur Hand um dieses Manifest, nein, nicht dieses - sondern DAS MANIFEST unserer Zeit, zu beschrieben. Das muss man lesen, drin versacken, jubeln, bedenken, ja…sogar endlich mal handeln! Liebe Freundinnen und Freunde!

 

Wyss übt den freien Fall
Tim Krohn, Erich, verlag galiani

Ich bleibe dabei, auch beim zweiten Band bleibt diese Idee grandios. Nämlich „Ein Buch über Gefühlsregungen zu schreiben, die von Mitmenschen vorgeschlagen werden, und die Tim Krohn so wunderbar in diese Mietshausgeschichten aus der Röntgenstraße in Zürich, einflechtet. In allen Gestalten, noch so verrückt oder jung, sexbesessen, forschend oder über das Sterben sinnend - in allen findet sich ein Teil von uns wider.“ (s. meine Kritik: Herr Brechbühl sucht eine Katze) In der Fortsetzung befinden wir uns nun im Jahre 2001. Wir alle wissen, wie dieses Jahr die Welt verändert hat: 9/11! Und so kommt es, dass diese furchtbare Katastrophe sich auch in die Geschichten in und um das Haus widerfinden. Schließlich werden die Anregungen für Stories ja auch von Lesern vorgeschlagen. Tim Krohn spinnt sich daraus eine Art „Lindenstraße“, die ich zwar nie gesehen habe, aber wo das Drehbuch sich sicher auch daran hält, die persönlichen Geschichten mit denen aus der Realität korrespondieren zu lassen. Man hat die Figuren aus dem ersten Band ja bereits lieb gewonnen und wundert sich manchmal, über die neu gewonnen Vitalität, zum Beispiel bei Herrn Brechbühl, der verliebt wie er ist, sogar noch mal eine Reise nach Istanbul wagt. Auch Erich Wyss, hochbetagt und als Witwer schon fast perspektivlos, haut auf einmal richtig um sich! Andere Lebenspläne, vor allem aus dem Kreativbereich der Schauspielerei und der Wissenschaften bleiben durch nine/eleven auf der Strecke oder gewinnen durch neue Richtungen. Die anfangs etwas pralle und schwer rückengeschädigte Efgenia freundet sich, nach Band 1 nahezu unvorstellbar, mit Julia Sommer an und so weiter und so fort. Und wenn sie nicht gestorben sind… Aber das werden sie nicht! Ich habe sogar gehört, dass sich Tim Krohn vor Vorschlägen zu den Charakteren und Wendungen aus seinem Leserkreis kaum retten kann. Man darf gespannt sein auf sein Destillat in Band drei!

 

Die Unzertrennlichen
Stuart Nadler, verlag kiwi

In der Bewerbung dieses Buches steht, dass das ein hochkomisch geschriebener Roman sei. Das wundert mich ein wenig, denn eine komische Seite habe ich bei dieser Geschichte über drei Frauen, Oma, Mutter und Tochter mit dem Hausnamen „Olyphant“ (erinnert mich irgendwie an Otto), eher nicht gefunden. Wenn überhaupt, ist es eine Tragikomödie mit den typischen Merkmalen unserer Zeit und insofern ist es ein Gesellschaftsroman: Prüderie, Mobbing, Verklemmtheit, Betrug, etc…und deshalb ist klar, wir befinden uns in den Staaten. Genauer in Bosten! Kurz zur Geschichte: „Oma“ Henrietta hat in den Siebzigern ein »Handbuch für Besucher des weiblichen Körpers« geschrieben, dass quasi wie eine Art Porno die Runde machte, hoch erfolgreich war und mit detailgetreuen Abbildungen der weiblichen Geschlechtsmerkmale glänzte. Ihr Mann hat mit einem erfolglosen Restaurant das mit dem Roman verdiente Geld pulverisiert. Er hat seine Niederlage nicht verwunden und Henrietta ist nun Witwe. Das Buch soll, für Henrietta unverständlicherweise, jetzt noch mal neu herausgegeben werden. Was Fragen aufwirft. Henrietta ist Mutter von Oona, eine vielbeschäftigte Chirurgin, deren Ehe allerdings wackelt und so gut wie vorbei ist. Denn ihr dauerbekiffter Mann, ein ehemals erfolgreicher Anwalt, raucht sich immer weiter in die Scheiße. Trotzdem müssen sich beide noch mal zusammen raufen, denn ihre gemeinsame 15 jährige Tochter Lydia wird aus dem teuren Internat geworfen, weil sie den Fehler gemacht hat, ein Nacktfoto von sich social media mäßig vertrauensvoll zu versenden, was natürlich schief geht. Der Ruf der Schule steht auf dem Spiel. Typisch USA eben. Dann gibt es noch eine Affäre von Oona, ausgerechnet mit ihrem gemeinsamen Paartherapeuten, und wie man schon ahnt, der hat auch nicht alle Tassen im Schrank. Ach ja, wenn man das letzte Drittel erreicht hat, fängt man an zu überlesen und wünscht sich nur noch, zum Ende zu kommen. Kann ich nicht empfehlen.

 

Amerika auf der Couch
Allen Frances, verlag dumont

„Nicht Trump ist verrückt, die Amerikaner sind es, weil sie ihn gewählt haben. Er ist das Symptom, nicht die Krankheit“ (aus: Onlinemagazin www.desktop12.ch ). Dieses Statement des Autors Allen Frances aus einem in der letzten Woche erschienen Interview, beschreibt auf den Punkt um was es geht: Trump ist nur die Fratze einer Gesellschaft auf einem gefährlichen psychopathologischen Trip. Das Buch ist so gut, dass ich mir wünschen würde, dies zur Pflichtlektüre eines jeden angehenden Lehrers, jedes Mandatsträgers, jedes BWL - Studenten, etc., oder was auch immer zu machen, um all diesen Menschen die Augen zu öffnen, um was es heute geht: Demokratie nicht nur zu retten, sondern zu verstehen. Nationalismus als Gefahr zu erkennen, kapitalistische Gier als System einordnen zu können und nicht zuletzt für die Zukunft dieses Planeten zu kämpfen. Wahnsinn als Methode. Wird oft lapidar so dahin gesagt, aber es ist längst Realität. Trump ist so ein Clown, dass er Stephen Kings Pennywise aus „Es“ wie ein Kindergartenspaßmacher aussehen lässt. Die Argumentationsketten von Allen Frances sind so eindeutig, so beängstigend klar und einleuchtend, dass man fast erschauert, weil man ja selbst Teil dieses apokalyptischen Weges ist. Volker Pispers, einer der großen deutschen politischen Kabarettisten in der Nachfolge Dieter Hildebrandts, hat nach über 30 Jahren auf der Bühne, die Brocken geschmissen, weil er nicht mehr ertragen konnte, seinem Publikum die Zusammenhänge zu erklären und diese bis auf donnernden Applaus nie Konsequenzen zeigte und munter weiter Merkel stabilisierte. Sein zynisches Statement ans Auditorium: „Sie sind ja nicht schuld, sie waren ja im Kabarett“! Ich hoffe inständig, dass dieses Buch von Allen Frances nicht auch so endet, es wird gelesen, kritisiert, steht monatelang aus den Sachbuchbestsellerlisten, und nichts passiert. Alles was an Vorschlägen vom Autor zum Ende seiner schonungslosen Abrechnung (nicht nur mit dem System Trump) bleibt dann allerdings ein wenig auf der „Die Hoffnung stirbt zuletzt“ - Schiene. Aber was soll man machen? Die Aufforderungen, alle im Kantschen Sinne des kategorischen Imperativs, sind eigentlich alle selbstverständlich: achte auf dich und deine Umgebung, handele nachhaltig, sei achtsam und so endet das Buch traurig melancholisch mit der Frage eines imaginären Enkelkindes an uns: „Was habt ihr gemacht, als Trump unsere Welt zerstört hat?“ Auf geht’s, verschenkt ab sofort dieses Buch, es wird sich für alle lohnen. Mich wundert nur, dass es in den USA noch nicht zu einer öffentlichen Verbrennung von „Amerika auf der Couch“ gekommen ist. Aber vielleicht lässt ja genau das hoffen!

 

Das Leben des Vernon Subutex 2
Virginie Despentes, verlag K&W

Als ich Subutex 1 vor ca. einem Jahr gelesen habe hat es mich fast umgehauen. Es traf mich unvermittelt, wie ein Schlag in die Magengrube und ich habe das Buch geliebt, gehasst und gefressen. Ein paar Monate vorher war da noch Michel Houellebecq mit „Unterwerfung“ auf meiner Leseliste und ich schwor nach der Lektüre dieser beiden gesellschaftspolitischen Abrechnungen, dass ich keinen Pfifferling mehr auf das Abendland setzen würde. Weil sich (ich zitiere wörtlich aus Subutex 2, Seite 70):“…die Leute seit (…) Jahren das Gehirn haben waschen lassen, dass sie nur noch eins wollen, nämlich ihren Hass auf die Kameltreiber rausschreien. Man hat ihnen die Würde geraubt, die sie in Jahrhunderten des Klassenkampfes erworben hatten, es gibt keinen Moment am Tag, in dem sie sich nicht wie gerupfte Hühner vorkommen, und der einzige gottverdammte Trick, den man ihnen verkauft hat, damit sie sich weniger scheiße fühlen, ist der Triumph, dass sie weiß sind und das Recht haben, auf jeden Dunkelhäutigen herabzusehen. ( …) Die Allianz aus Banken-Religionen und Weltkonzernen hat die Schlacht gewonnen.“ Aber ich komme auch mit Vernon Subutex langsam in ruhigere Gewässer. Die Wut aller Protagonisten wird im zweiten Band langsam gebändigt und es entwickelt sich in eine völlig überraschende Richtung, die ich aber hier nicht vorweg nehmen möchte! Vernon bekommt eine neue Rolle in all diesem Durcheinander, aber er bleibt der, um den sich alles dreht. Im ersten Band war es die Beschreibung seines persönlichen Niedergangs, an deren Ende man nur noch auf sein Verrecken warten konnte. Und jetzt? Vernon selbst wundert sich wohl am meisten über alles. Der Band zwei hat nicht mehr diese wilde Wut auf alles, Frau Despentes beschreibt eher die Charaktere genauer, deren Beziehung untereinander und mischt die Karten neu.
Der fast Erschlagene trinkt ein Bier mit seinem Faschoschlächter und aller Hass kanalisiert sich quasi in eine Sekte und der Erleuchtete (Vernon) geht voran und lächelt milde. Was soll er auch machen? Ich freue mich schon auf den dritten Band, der in Frankreich schon erschienen ist!

 

Chill mal! Am Ende der Geduld ist noch viel Pubertät
Matthias Jung, verlag edel

Als meine Tochter 12 Jahre alt war, schrieb ich ein Lied über die kritische Zeit der Pubertät. Im Refrain steht: „Sie ist so jung, so unverfroren unalt, sie ist so cool, und oft Lichtjahre entfernt – sie weiß so viel, vor allem alles besser, manchmal redet sie als käme sie von einem andern Stern, und genau das Gleiche, denkt sie über ihren alten Herrn“. Tja, jetzt ist sie mehr als doppelt so alt und ich spiele dieses Lied noch immer. Weil es zeitlos ist und ich die Worte geplagter Eltern immer noch gerne höre: „Herr Ape, sie singen genau von meiner Tochter“. Das zu beschreiben ist auch Matthias Jung mühelos gelungen. Man kennt ja diesen Psychotest, wenn ein Proband mal ganz schnell drei Dinge sagen soll: „Musikinstrument, Werkzeug, Farbe“. Die Antwort kommt zu nahezu 90% wie aus der Pistole geschossen: „Geige, Hammer, rot“. Und den vorher mit genau diesen drei Begriffen beschriebenen Zettel, hält man diesen verdutzen Zeitgenossen vor die Nase. So kann man dieses Buch auch zum Beispiel mit in ein hormongesättigtes, stinkendes Zimmer nehmen und den Buben bitten, die Pizzareste von vor zwei Monaten endlich zu beseitigen. Die Antworten, bzw. das Gebrumme, welches dann folgt, sind genau so exakt beschrieben. Man kann diesem Cortex - und Gehirnlappendurcheinander einfach nicht böse sein, wenn man die Antworten gleich mitgebracht hat - eben wie sie schon im Buche stehen. Teilweise ist alles mit vorsichtigen wissenschaftlichen Statistiken und neuronalen Erkenntnissen belegt und zitiert, aber das ist nicht so wichtig. In der unmittelbaren Situation, wenn Du glaubst, mit diesem ausgeflippten, schreienden um sich schlagenden Blag kann es nicht mehr weitergehen, hilft es nicht und es kommt eh noch schlimmer! Aber das Buch bietet auch Trost. Man ist nicht alleine. Da draußen stehen Millionen anderer (Eltern) und halten sich mit Mühe aufrecht. Gibt es eigentlich Selbsthilfegruppen für Eltern mit pubertierenden Kindern? Bestimmt. Ich bin dadurch gekommen, unsere Tochter auch und ich bin heute mächtig stolz auf sie. Die wichtigste Erkenntnis ist: Gelassenheit. Nicht so, dass diese Naturwunder vor Wut durchdrehen und sich nicht ernst genommen fühlen, aber doch so, dass man selber gut überlebt.

 

Tschick
Wolfgang Herrndorf, verlag Rowohlt

Man, da habe ich mir ja lange Zeit gelassen. Aber ich wiegte mich ja in der Sicherheit, dass, wenn ich mal wirklich nichts zu lesen haben würde, ja immer noch Tschick da liegt – überhäuft mit Superlativen, bühnengerecht aufbereitet und natürlich gibt es mittlerweile einen Film. Also, bei so viel Vorschusslorbeeren… und tatsächlich: ein klasse Buch. Sozusagen ein Wiederaufleben meiner literarischen Erstlinge: Tom Sawyer und Huck Finn versetzt ins heute, in die ausladenden brandenburgischen Berliner Sümpfe und Landschaften. Mark Twain im zweifelnden Osten der Nach-Wende. Die Geschichte will ich gar nicht noch mal zusammenfassen, denn ich habe das Gefühl, dass sie nahezu jeder oder jede kennt. Was Herrndorf hier gelungen ist möchte ich aber doch gerne loswerden. Man weiß immer, dass es ein Erwachsener geschrieben hat. Herrndorf, von seiner Fabulierlust und Phantasie beflügelt, vielleicht in Worte zu fassen, wovon er als Kind oder Heranwachsender geträumt hat. Es gab sicher irgendwelche Erlebnisse in seiner Schulzeit die diese Geschichte die erste Nahrung gab. Man merkt, irgendwann musste sie raus, und wie. Das Schöne ist, dass er es geschafft hat, auch die Ängste so zu beschreiben, die Maik, sagen wir 12/13 Jahre alt (genau weiß ich jetzt nicht) zuerst gelähmt haben, aber von denen er sich mit Hilfe des illusionslosen Tschick nach und nach befreit. Wenn ich mir heute die Handysucht der Pubertierenden ansehe, weiß ich genau was denen fehlt: ein Abenteuer. Und das hat Herrndorf großartig beschrieben!

 

Herr Brechbühl sucht eine Katze
Tim Krohn, verlag galiani

Diese Idee ist grandios. Ein Buch über Gefühlsregungen zu schreiben, die von Mitmenschen vorgeschlagen werden, und die Tim Krohn so wunderbar in diese Mietshausgeschichten aus der Röntgenstraße in Zürich, einflechtet. In allen Gestalten, noch so verrückt oder jung, sexbesessen, forschend oder über das Sterben sinnend - in allen findet sich ein Teil von uns wider. Im Leben wir dir nichts geschenkt und es ist meist eine auch eine ziemliche Plackerei. Aber in allem steckt auch ein Wille, die Schwierigkeiten zu meistern, sich nicht demütigen zu lassen oder sogar zu kämpfen. Das in dem Haus dabei urkomische, absurde oder auch weltphilosophische Gedanken gewälzt werden, liegt eben in der menschlichen Natur. Nur weißt du eben oft genug nicht, was dabei der Sinn ist, nach dem alle irgendwie suchen. Vielleicht ist das aber eben genau der Sinn. Es bildet sich in diesem wunderbar schrägen Haus eine nachbarschaftliche Dynamik aus, die zwar oft genug im Streit oder sogar im Desaster endet, aber aus dem sich alle, kurz geschüttelt und in neuer Ordnung untereinander, befreien. Dieses Buch macht pure Lust weiter zu lesen und es gibt die Sicherheit einer Fortsetzung. Unbedingt empfehlenswert!

 

Aufruhr in mittleren Jahren
Nina Lykke, verlag Hanser

Ich lege ein Buch zur Seite und atme erst mal tief durch. Weil ich grade parallel eine schonungslose Bestandsaufnahme des Zustandes unseres Planeten lese und über dessen Zerstörern (Amerika auf der Couch), welches im Endeffekt erklärt, dass der Mensch, egal wo und wann er auftaucht (e), qua genetischer Disposition alles ausrottet - inklusive sich selbst. Die Witzfiguren heute an der Spitze, wie Trump zum Beispiel, sind gar nicht das Problem, sondern die Allgemeinheit - also wir - sind es, die auf die Couch gehören. Nun was hat das mit Nina Lykke zu tun? Irgendwann in diesem beängstigenden Buch über das Leben in den „mittleren Jahren“, geht Jan, Ehemann, Ehebrecher, Liebhaber, Verzweifelter, etc… der über den ganzen Roman hin, nach und nach richtig in die Scheiße fliegt, auch zum Psychotherapeuten auf die Couch. Nutzt aber nix. So, nun mal langsam Fred. Fangen wir mal mit Ingrid an: sie ist eigentlich relativ erfolgreich im Job (Lehrerin) und als Mutter (zwei Buben, ein Mann – Jan), aber auf einmal wird ihr alles komisch. Sie fängt an, nach und nach nicht mehr zu begreifen, was sie eigentlich zusammenhält, bzw. wie sie die ganzen Jahre funktioniert hat. Sie sieht plötzlich alles mit anderen Augen, quasi außerhalb von mittendrin und hält es nicht mehr aus. Dann kommt Hanne ins Spiel, vordergründig gut ausgebildet, hübsch, mit bestem Job, aber innerlich ein seelisches Wrack, beziehungsunfähig und trotz allem mit Sehnsucht nach einem Kind bzw. einer Familie. Jan, besagter Ehemann von Ingrid, lässt sich von Hanne verführen und das Drama nimmt seinen Lauf. Und zwischendurch hat man immer das Gefühl, ja, hier liegt eine genetische Getriebenheit vor, die sich in ihrer Gewalt kaum aufhalten lässt. Loriot sagte mal, Frauen und Männer passen nicht zusammen. Versuchen es aber immer wieder. Das Buch ist ein Beweis für diese These und unsere genetische Bestimmung. Fast freuen wir uns mit Ingrid, die gegen Ende des Romans, in relativer Zufriedenheit in einem VW Bus lebt, weil sie nur noch in dem schlafen kann. Jan und Hanne sind dabei sich zu zerfleischen, weil tatsächlich nach Jahren der Auseinandersetzungen, des Streits und der Niederlagen, ein Kind gekommen ist, aber trotzdem die beiden Jungs von Jan und Ingrid, noch im Rennen sind. Beschrieben wie saugende Parasiten, die längst erwachsen, sich nicht mal alleine den Arsch auswischen können. Und das soll jetzt Hanne machen. Insgesamt ein stimmiges, teilweise schwarzhumoriges Gesellschaftsportrait, zwar aus Norwegen, doch kompatibel mit unseren westlichen Neurosen überall!

 

Bewahren sie Ruhe
Maile Meloy, verlag kein&aber

Wenn ich nicht wüsste, wie lange man so an einem Roman sitzt, sich die Wörter und die Spannung aus dem Hirn hämmert, und immer irgendwie hofft, eine gute Geschichte zu erzählen, um sie in etlichen hundert Seiten sogar noch zu Ende zu bringen, so würde ich jetzt sagen, tja, wieder mal so eine aufgebauschte Story von der Stange. Und da es sich auch um eine Kreuzfahrt handelt, die für drei gebeutelte Elternpaare zum Horror wird, und für die Kinder sowieso, vergleiche ich das jetzt mal mit dem ebenso schlechten Roman von S. Fitzek : Passagier 23. Echt ermüdend. Man quält sich von Seite zu Seite und die Autoren (so auch Pitzek) hören einfach nicht auf, immer noch einen drauf zu setzen. Immer wenn man meint, die Kinder sind gerettet, mehr will ich gar nicht sagen, passiert noch was. Wir hangeln uns zwischen Kreuzfahrtidyllen, Drogenkartellen, immer mal wieder anklingender Gesellschaftskritiken und Beziehungskrisen, bzw. Affären, durch dieses Buch und denken am Ende des Tages, wenn Du einmal Scheiße am Schuh hast… solltest Du mit dem anderen nicht auch noch rein treten! Ich würde das Buch nicht empfehlen!

 

Beschreibung einer Krabbenwanderung
Karosh Taha, verlag dumont

Das ist der Blick durch ein Schlüsselloch. Man sieht auf der anderen Seite eine Welt, von der man quasi nichts weiß. Vielleicht schlimmer noch, eigentlich gar nichts wissen will. Warum ist das so? Ich fühlte mich während der Lektüre dieses interessanten, wohl fast schon autobiographischen Romans, irgendwie immer sowohl neugierig als auch abgeschreckt. Stellen wir uns dieses Hochhaus vor. Voller Kurden. Irgendwo in Deutschland. Das Haus hat sich wie ein Magnet vollgesogen mit Menschen aus der gebeutelten kurdischen Heimat. Und sie haben alle ihre Weltanschauungen, ihren mehr oder weniger ausgelebten Islam und ihre Familienehre mitgebracht. Die Älteren versuchen verzweifelt sich an dem wenigen zu klammern, was einen Menschen noch geradeaus laufen lässt, die Jüngeren versickern in dem neuen Land, dass ihnen selten genug eine neue Heimat bieten kann, außer vielleicht hier und da eine Ausbildung oder gar eine Arbeitsstelle. Wir durchleben das Buch mit der Ich – Erzählerin Sanaa. Sie ist jung und hübsch, hat zwei Liebhaber, eine kratzbürstige pubertierende Schwester, eine depressive Mutter und einen rastlosen Vater. Sie taumelt durch die verschiedenen Kulturen, verfällt in Tagträume (die mit der roten Krabbe) und ist sich trotz aller Fluchtgedanken, ihrer Verantwortung bewusst. Egal was passiert, die Familie ist und bleibt heilig. Auch wenn hinter den Hochhausfassaden hier und da wild gelebt, gekifft, ja auch gesoffen und gehurt wird, irgendwie passt man aufeinander auf. Das geht so weit, dass am Ende des Tages keiner frei ist aber eben auch nicht ganz unglücklich. Sanaa erklärt uns das, ich verstehe wieder alles ein bisschen mehr. Es macht mich nicht froh, dieses voyeuristische Buch zerrt an den Nerven und ist so vollkommen anders. Aber eben gut!

 

Rimini
Sonja Heiss, verlag kiepenheuer&witsch

Der Roman erinnert mich an die großen amerikanischen Gesellschaftsromane von John Updike oder Jonathan Frantzen. Sonja Heiss zerpflückt eine vermeintlich normale Familienstruktur, d.h., gutbürgerliche Mittelschicht, wo man vordergründig denkt, jau, kenn ich - so weit so gut! Doch nach und nach kommen die Abgründe. Alexander und Barbara als Großeltern, wie man sie nie selbst werden wollen würde!
Der angeschlagene Alexander und die depressive Barbara haben zwei Kinder, Hans und Masha, die dabei sind, ihre Träume und Sicherheiten zu zertrümmern, weil die Brüchigkeit ihrer Lebensläufe, eine relativ gelassen Art von Glück einfach nicht vorgesehen hat. Masha ist jetzt um die vierzig und verspürt den Kinderwunsch in sich, mit all den biologischen Uhren und Bremsen, an Haut, Sexualität und Seele. Hans, noch Partner in einer Anwaltskanzlei, hat zwar zwei Kinder mit Ellen, aber steht rein psychisch auf ganz dünnem Eis, in das er dann auch am Ende des Tages einbricht. Selbst eine Psychoanalyse ist für ihn erst mal ein Beispiel für vermeintliche Überlegenheit, gegenüber der Therapeutin, mit der er eigentlich nur ins Bett will. Das ist ein Buch voller Familienkrisen, aber Sonja Heiss gelingt es mit Rimini, dich als Leser zu hinterfragen. Denn in all diesen Protagonisten, von den kreischenden Enkeln bis zu den Großeltern, schlummert auch ein Stück Selbsterkenntnis. So doof und banal sich das jetzt anhört: es ist „Als wärs ein Stück von mir“ (sorry Carl). Sehr guter, nervender (im positiven Sinne) Roman.

 

Die Melodie meines Lebens
Antoine Laurain, verlag Atlantik

Nach zuletzt „Der Hut des Präsidenten“ bin ich jetzt leider etwas enttäuscht. Vielleicht habe ich auch zu viel erwartet. Denn da ich ja nun selbst mein Leben lang als Musiker unterwegs bin, ist die Ausgangslage des Stoffes eigentlich ganz spannend: in jungen Jahren hatte Alain, heute Arzt, der sich irgendwie in seinem Leben alles zurecht gedengelt hat, obwohl er weiß dass seine Frau ihn betrügt, eine Band. Und eine prima Songidee namens „We are made the same stuff dreams are made of“. Hologram, so hieß die Band, schickte damals ein Demotape, wie üblich, an eine große Company, ca. 30 Jahre her, und hörte, wie so oft passiert, (selbst mir) nichts mehr davon. Schmunzelnd erfährt man als Leser, dass dieses Tape einen ganz eigentümlichen Weg genommen hat, und sogar ein Brief der Plattenfirma existierte, die der Band einen Vertrag anbot. Und genau dieser Brief kam nicht an, weil er in den Achtzigern im Postamt hinter einem Schrank verschwand und erst „heute“ wieder gefunden – und zugestellt wurde. So weit so gut. Alain meint nun, die anderen Bandmitglieder ausfindig machen zu müssen um ihnen davon zu erzählen. Naja, und da fängt es an, etwas unübersichtlich zu werden und das Buch wird irgendwie zusammenhanglos, weil die einzelnen Biographien der Band höchst unterschiedlich sind und viel wichtiger werden, als die relativ lustige Eingangsszene des Romans. Es wird also sehr anstrengend, die Wege der Jungs und Mädchen nachzufühlen, denn dazu gesellen sich noch Beziehungskonflikte von damals und auch Kinder die irgendwie auftauchen und ihrerseits langatmig beschrieben werden. Am Ende gibt es sogar noch eine Art Plot, aber da ist man schön müde.

 

Wenn Fußball Schule macht
Knut Reinhardt, verlag edel

Knuuuuuut. Tja, das war sein Markenzeichen wie es aus zigtausend Kehlen in den Neunzigern der Hitzfeld - Ära im Dortmunder Westfalenstadion schallte, wenn Knut Reinhardt an der Außenlinie zum Sprint ansetzte, sogar den Ball technisch versiert vor sich hertrieb und im richtigen Moment entweder eine Flanke in den Strafraum zirkelte oder nach kurzem Doppelpass mit Andy Möller, eine Klebe ansetzte, für die man in der Regel einen Waffenschein brauchte, bzw. einen verdutzten Torhüter schlecht aussehen ließ. Nun gut das ist vorbei. Aber Knut hat auch ein Leben vor dem Profifußball und ein Leben danach. Wir befassen uns am besten mit dem Leben danach. Was Knut vorher aus seinem Leben als heranwachsender, fußballbegeisterter Junge zu erzählen hat, gehört in die Kategorie „fast normal“. Selbst ich hätte aus der Zeit viel zu sagen, träumte ich doch auch von einem Leben als Torwartprofi. Da gibt es jede Menge ups and downs zu verarbeiten, Siege und Niederlagen, Fettnäpfchen, geplatzte Träume, Verletzungen innen wie außen, etc…. Das ist in etwa so erzählt,wie man es als Vater macht, wenn man von seiner
nunmehr ziemlich erwachsenen Tochter ein Buch mit leeren Seiten bekommt, mit dem Titel „Papa, erzähl mal…“. Ich hab so eins und noch nichts reingeschrieben. Aber jetzt, wo ich Knuts Geschichte gelesen habe, weiß ich wie es geht. Knut hat also jede Menge Erfahrungen gemacht als Profi, Nationalmannschaft, deutsche Meisterschaften, Champions League Sieg, etc.. Und trotzdem gelingt ihm der Übergang ins „Leben danach“ nicht so recht. Erst als er von einem guten Freund an die Hand genommen wird, der ihm einen Weg vorschlägt, ändert sich alles. Knut wird Grundschullehrer. Und was für einer. In einer preisgekrönten Integrationsschule im Dortmunder Norden, an der „kleinen Kielstraße“ findet er seine Bestimmung im Leben und kann von den unglaublichen Erfahrungen seiner Karriere profitieren. Bis dahin ist es ein harter Weg, jenseits der dreißig noch mal an die Uni, aber er schafft es. Mit dem nötigen Siegeswillen. Und an dieser Stelle kriegt das Buch das Prädikat besonders wertvoll. Knut liebt seinen neuen Beruf, er liebt die Kinder, versteht die Zusammenhänge zwischen müden Augen und gesellschaftlichen Problemen. Und er hat immer ein Beispiel an der Hand, wo er das Verhalten seiner Schülerinnen und Schüler mit seiner - oder der oftmals infantilen Herangehensweise eines jungen Fußballprofis - vergleichen kann. Es schaffen nur wenige, einen Job nach der Profi- Karriere zu gestalten, die nichts mit Fußball zu tun hat. Aus Dortmunder Sicht gibt es rühmliche Ausnahmen: Neven Subotic (noch aktiv mit eigener Stiftung) Christoph Metzleder oder Sebastian Kehl. Und jetzt auch Knut. Der es verstanden hat, über seine, auch in seinen Beziehungen zu Frauen und Freunden, teilweise verrückte Lebensgeschichte einen Weg zu finden und vor allem die Ruhe die es braucht, ein guter Lehrer zu werden und zu sein!

 

Früher hab' ich nur mein Motorrad gepflegt
Bernd Gieseking, verlag Fischer

Von einem, der auszog, um seinen alten Eltern zu helfen. Genau! Und dies betrifft uns alle, die wir in „diesem“ Alter (noch) verweilen. Eben in dem Alter, in dem sich der Autor auch befindet. Da eben, wo man sich noch fit fühlt, einem manchmal (noch) die Welt gehört und erste Alterswehwehchen am Tresen einfach weggetrunken werden. Mit „Prostata die Herren“ und ähnlichen Sprüchen! Tja, irgendwann fällt einem auf, das die Eltern nunmehr über achtzig sind. Das kann man eine Zeit lang ignorieren oder nicht ernst nehmen, oder schlimmer noch, hoffen, dass da Geschwister sind, die Verantwortung abnehmen. Nicht so Bernd Gieseking: er stellt sich. Und das ist so rührend, dass einem manchmal die Tränen kommen, bei all der Sitcom im Hause Gieseking. Ur - Westfalen aus der Nähe von Minden. Kauzig manchmal, aber im Kern herzlich und liebevoll. Nur nicht alles sofort zeigen. Eine Krankheit, z.B. ein Rippenserienbruch, wird erst bagatellisiert, etwa: dafür brauchst Du nicht extra zu kommen, mein Junge. Aber der kleine Bernd kommt - und wie! Er bleibt sogar einen ganzen Sommer und erlebt alles in einem derart anderen, neuen Licht, welches ihm nicht nur einmal, sondern serienweise, aufgeht. Er packt an, macht natürlich alles falsch, aber es kommt zu einer wunderbaren Nähe und vor allem, zu einem Verstehen des Prozesses, der da schlicht und einfach „altern“ heißt. Und uns noch bevorsteht. Dieses Buch ist eine Vorbereitung auf das was uns „blüht“ oder in uns „verblühen“ wird. Wenn ich dann so jemanden hätte wie Bernd, ok, lass kommen! Wenn ich überhaupt niemanden habe, einsam bin, mich die Demenz aus dem Rennen nimmt, dann lesen Sie bitte alle die in Verantwortung stehen, meine Patientenverfügung! Klasse Buch Bernd!

 

Lichter als der Tag
Mirko Bonné, verlag schöffling&co

Dies ist eine Geschichte von vier Kindern, die zusammen ihre Teenager - und Jugendzeit meist in einem verwilderten Garten verbringen und, bei aller Freundschaft, den falschen Weg einschlagen, bzw. alle die Abzweigung verpassen oder nie wirklich nach den Möglichkeiten, die das Leben sonst so bietet, gesucht haben. Hört sich kompliziert an, ist es auch und in den Auswirkungen katastrophal. Als sich die vier, Raimund und Moritz auf der einen - und Inger und Floriane auf der anderen Seite, als Erwachsene für die jeweils falsche Partnerschaft entscheiden, bleibt nur noch eine kurze Strecke und alle Freundschaft ist auf Ewigkeiten zerrüttet. Schlimme Versuche alles im Geheimen wieder gut zu machen, enden depressiv. Das eine ungleiche Paar, Raimund und Floriane, bekommen sogar noch zwei Kinder zusammen, die jedes auf seine Art, der Entzweiung der Eltern trotzen. Schlichtweg verrückt ist die Schwangerschaft von Inger, denn der Vater ist auch Raimund und nach und nach schält er sich als die Hauptperson des Buches heraus. Es müssen ca. dreißig Jahre vergehen, bis sich die Lebenslügen derart hochkochen, dass Raimund nur noch den Ausweg sieht, sich aus dem Leben zu verabschieden, oder tatsächlich die eine letzte und entscheidenden Chance am Schopfe zu packen und über seinen Schatten zu springen. Dabei hilft ihm ein guter Freund, der zwar auch sein Päckchen zu tragen hat, aber zu ihm steht. Es kommt zu einer Art showdown in Lyon. Letztendliche Rettung für Raimund ist sein Liebe zu Farben und zum Licht, bzw. eines ganz bestimmten Lichtes, woran er sich klammert. Er findet dieses Licht dargestellt in einer Ausstellung in Stuttgart und schmiedet endlich einen Plan der in am Ende des Tages wieder gesellschaftsfähig macht. Keine Lügen mehr, sich nichts mehr vormachen, sich den Dingen stellen. Zu seiner wahren Liebe stehen. Das ist die Botschaft dieses erst recht schweren, doch dann immer leichter werdenden Romans, der uns die Frage stellt: was ist Glück! Tja, schön!

Raimund Merz kennt Moritz und Floriane von Kindheit an. Ihr Lebensmittelpunkt ist ein wilder Garten am Dorfrand. Als Inger zu ihnen stößt, die Tochter eines dänischen Künstlers, bilden die vier eine verschworene Gemeinschaft, bis sich beide Jungen in das Mädchen verlieben. Inger entscheidet sich für Moritz, Raimund und die ehrgeizige Floriane werden ebenfalls ein Paar. Jahre später kreuzen sich die Wege der vier erneut - für Raimund die Chance, sich der Leere seines Lebens ohne Inger zu vergegenwärtigen. Verzweifelt sucht er nach einem Weg zurück zu sich selbst und zu einer Aussöhnung mit der Vergangenheit. In einem furiosen Finale bricht er auf nach Lyon zu einem Gemälde, das ihn in Bann zieht wie in der Kindheit der wilde Garten. Mirko Bonnés großer Liebesroman überträgt das Wahlverwandtschaften-Thema in die heutige Zeit. Er fragt nach Gründen von Entzweiung und Entfremdung und zeichnet dabei das ergreifende Porträt eines Mannes, der die Kraft findet, aus dem Schatten über seinem Dasein hinauszutreten.