© Thomas Kampmann ./. ART & carlfunkel

Bücherkiste 2008

Mein Lieblingsbuch 2008:

"Krematorium" von Rafael Chirbes

Der Schläfer
Daniel Silva, Verlag Piper

Wieder mal bin ich nur zufällig auf einen Autor gestoßen. Da fragt man sich doch, warum sagt mir keiner was? Jeder weiß doch, dass ich gute, spannende und vor allem exzellent recherchierte Bücher liebe? Da schreibt dieser Silva seinen fünften Spionagethriller um den israelischen Geheimagenten Gabriel Allon, und bis dato habe ich nichts davon gehört. Gut, man kann nicht alles lesen, hat seine Vorlieben und sicher gibt es auch in der Literatur Parallelwelten und es ist auch gut so. Nun denn, ein klasse Buch. Vor allem beeindruckt mich die neutrale Position, die Daniel Silva beschreibt. Der Nahost-Konflikt und seine Geschichte, die Sache der Palästinenser und der Juden, die Vertreibungen, die Lager, die Bombenattentate, Selbstmordkommandos und der Zustand der Welt, wird nicht einseitig beschrieben, nein - bei aller Brutalität der jeweiligen Vorgehensweise, gibt es eine Singularität, auf die man sich immer wieder interessiert stützen kann. Alles hat seine Ursache, in bescheuerten Religionen und daraus resultierenden Fanatismen zum Beispiel. Gemeinsam ist allen Beteiligten, dass der "Globus quietscht und eiert" aber man selbst sehen muss, dass man überlebt. Und dafür, eben für Israel, ist der Geheimagent Gabriel Allon da. Im vorliegendem Buch misst er sich mit dem Spross einer Terroristenfamilie in der dritten Generation, der im Mantel eines biederen Frauenlieblings und Archäologieprofessors, blutige Spuren in Europa hinterlässt. Es ist Sache von Gabriel Allon, ihm auf die Spur zu kommen. Bis dahin ist es ein spannender, hochinformativer Ritt durch die Zeit - und Kulturgeschichte nicht nur Vorderasiens, denn auch Gabriel als Restaurator von Gemälden alter Meister, wird wie nebenbei, hochintelligent vermittelt. Dass ich irgendwie die ganze Zeit Bruce Willis vor Augen habe, der in der eventuellen Verfilmung der dramatischen Romanvorlage, in einer Mischung aus Resignation und steter Loyalität, den Gabriel spielt, mag meine Macke sein. Aber ich würde mich drauf freuen.

 

Kontrapunkt
Anna Enquist, Verlag Luchterhand

Herzzerreißende, rührende Trauerarbeit
Am Anfang hab ich nicht geglaubt, dass ich mich an diesem Buch festbeißen kann.
Kommt doch viel zusammen, von dem ich eigentlich keine Ahnung habe. Obwohl man das natürlich nicht so sagen kann – denn jeder Mensch sollte Trauer nachvollziehen können, vor allem die Verarbeitung des Schmerzes und des Verlustes, auch wenn es sich hier fast ausschließlich um den der Mutter handelt. Also ein Frauenroman? Klar, schon eher, aber wiederum auch nicht.
Der/ein Vater kommt kaum vor und ich, als jemand der zwar Musik, auch Klassische, sehr genießt, kam mir manchmal doch etwas dumm vor – bar jeder Notenkenntnis - und "Goldbergvariationen“ von Bach sagten mir erstmal nichts. So doof, so gut.
Nun bin ich aber Vater einer achtzehnjährigen Tochter, spiele leidenschaftlich Folk - Gitarre – lebe sogar davon – und so zog ich mir nach und nach den Buchmantel samt Inhalt über und bin oft sprachlos gewesen, vor so genauer, sezierender Sprachqualität, die auch das Heranwachsen unserer Tochter in einem neuen, wenngleich sehr sentimentalen Licht, erscheinen lassen. Es geht um die Rettung der gemeinsamen Zeit, welche sich  nicht in Fotos an den Wänden, ein paar aufbewahrte Erinnerungsstücke oder etwa Schulzeugnisse, etc., erschöpfen sollen. Die Mutter, Konzertpianistin, kämpft mit den Goldbergvariationen um die Erinnerung an ihre Tochter, die plötzlich Anfang/Mitte zwanzig durch einen Unfall aus dem Leben gerissen wurde. Es ist sowieso immer schlimm, wenn die eigenen Kinder vor den Eltern sterben, aber so eine jähe Tragik, ohne Krankheit oder Vorhersehbarkeit, macht schaudern.
Sie setzt sich an den Flügel und in einer Art Zweiteilung der Kapitel – jedes Kapitel  wird als eine der Variationen, von denen es dreißig gibt, überschrieben – geht es sowohl um den Versuch, Bachs Genialität zu verstehen, bzw. nachzuspielen und aus der jeweiligen Atmosphäre, wie ein Puzzle, das gemeinsame Leben mit der Tochter zusammenzufügen (oder zu fugen, wie Bach es wohl gemacht hätte). Und genau dabei kommen solch rührende Beobachtungen heraus, dies einem das Herz brechen. (Wobei ich mich heute wundere, dass man diese oder ähnliche Erlebnisse mit dem eigenen Kind damals selbst nicht sofort notiert hat; obwohl, es gibt diese Erlebnisbücher, diese Mutter – Kind Kladden, die am Anfang nahezu täglich - in der Pupertät dann gar nicht mehr gefüllt werden) Ein ganz großer Roman, ein Juwel. Und nun auf – Goldbergvariationen kaufen - in einer Aufnahme von Glenn Gould.

 

Wächter der Tiefe
Lincoln Child, Verlag Wunderlich

Der Name des Verlages scheint Programm zu sein. Wunderlich. Denn ich wunder mich schon, dass seit dem Erfolg von Dan Brown ("Sakrileg“ etc.)  immer noch mehr dieser Schmarren veröffentlicht werden. Schablonenhaft wird hier die gewohnte Mixtur aus Legende, Mittelalter, science fiction, Wissenschaft vs. Militär (bzw. Geheimdienst), statische Hauptpersonen, krude Formeln und Spinnereien über Entschlüsselungen von diversen Codes und über allem wird eine intergalaktische Macht installiert, die sich aber nicht wirklich vorstellt. Das Buch ist Massenware, reine Zeitverschwendung und es sollte mich nicht wundern, wenn es in deutschen Bestsellerlisten auftaucht.
Kurz zum "Inhalt“: eine gigantische Forschungsanlage ist in drei KM Wassertiefe über den atlantischen Rücken positioniert worden, und es geht vordergründig um die Entdeckung von Atlantis, dem versunkenen Kontinent. Wahr ist aber, dass man Signale geortet hat, die auf etwas unvorstellbar Gigantischem hindeuten.
Man versucht also über eine Art Bohrung durch den Meeresgrund dahin zu kommen. Leider kommt es in der Anlage zu unspezifischen Krankheiten, und ein Experte in diesen Sachen, Dr. Peter Crane, wird zur Anlage geschickt um dem auf dem Grund zu gehen. Klar, irgendwann wird er zum Helden und es gibt auch eine Liebschaft, mit einer asiatischen Wissenschaftlerin, die natürlich klasse aussieht.
Wir müssen uns durch Sabotage kämpfen, und uns mit kleinen, wunderlich leuchtenden, hoch energetisch aber liebenswert kügelchenhaften Energieträgern anfreunden, (leben die sogar?) etc…! Und Murmeln kommen sowieso oft vor. Soll doch lesen wer will, selber Schuld.

 

Bestattung eines Hundes
Thomas Pletzinger, Kiepenheuer & Witsch

Amygdala (griech.)  Mandelkern, beidseitig angelegte, mandelförmige Hirnregion im Schläfenlappen des Großhirns. Die Amygdala stellt einen Teil des limbischen Systems dar und erfüllt Funktionen bei der emotionalen Bewertung von neuronalen Informationen.
Die elektrische Reizung der Amygdala ruft bei Mensch und Tier emotionale und vegetative Reaktionen hervor. Hat Pletzinger bewusst den Namen Mandelkern für seinen Roman "Bestattung eines Hundes“ aus dieser Duden - Definition abgeleitet? Mag sein, denn der Protagonist und einer der "Ich Erzähler“, eben der gescheiterte Ethnologe und (Zufalls-) Journalist Daniel Mandelkern, wird in diesem Roman emotional und vegetativ hochgradig gereizt. Aber mal langsam.
Es gibt eigentlich zwei Handlungsstränge, die sich nach und nach ineinander verweben und die durchaus einen überraschend eigenen Sprachstil erkennen lassen. Mandelkern wird von seiner Frau Elisabeth, die Redaktionsleiterin einer Zeitschrift mit Sitz in Hamburg ist, mit dem Auftrag in Schweiz geschickt, einen hochaktuell erfolgreichen Kinderbuchautor zu interviewen (16000 Zeichen). Er findet diesen Svensson zwar, aber auch mehrere Geschichten, Personen, Schicksale und Tragödien. Mehr und mehr ist Daniel Mandelkern von der abenteuerlichen Vita Svenssons (festgehalten in "Astroland“, welches er zuerst schamhaft liest, weil zufällig gefunden, 2. Handlungsstrang) und er vergisst in dem runtergekommenen Haus Svenssons am Luganer See nicht nur seinen Auftrag, sondern auch die Zeit, und vielleicht am Ende auch sich selbst.
Mit Svensson, der schönen Finnin Tuuli, mit der Fotografin Kiki Kaufmann, mit dem dreibeinigen Hund Lua, oder Lula, je nach dem, und Tuulis kleinen Sohn, dessen Vater entweder Svensson oder Felix Blaumeiser ist, und der einer der Hauptpersonen des Romans im Roman (eben Astroland) ist. Und immer wieder stellt er in überraschenden Reflektionen seine Beziehung zu seiner Frau Elisabeth in Frage, bzw. er fragt sich die Frage aller Fragen: was soll das alles?
Diese Frage können sich natürlich alle beteiligten Figuren stellen, denn wir haben es mit nicht wenig Erlebnissen rund um den Globus zu tun. In einem ganz eigenen, auch für mich neuen Rhythmus und Erzählstil, mit überraschenden Überschriften und eingeschobenen Beobachtungen (Beispiel: ein Paar lässt sich vor einem Brunnen fotografieren. Pleitzingers Einschub - für die Dauer des Bildes glücklich -) befinden wir uns mal in Brasilien, wo Blaumeiser Tuuli und Svensson in irgendeinem Slum für irgendeine karikative Organisation eine Wasserleitung bauen, oder im New York des 11. September.
 Alles vielleicht ein wenig viel; zuviel Dreiecksgeschichten und überbordende Sauf- und Drogenexzesse. Aber wie dem auch sei, Mandelkern gibt sich nach dem Schweiz Abenteuer eine neue Richtung. Und Hand aufs Herz, wer schafft das schon von uns?

 

Krematorium
Rafael Chirbes, Verlag Kunstmann

"So ist das Leben. Man häuft Wissen an wie eine Elster, hört tausend Platten, liest ein Buch nach dem anderen, sieht Hunderte von Fernsehsendungen, blättert im Laufe des Lebens in Millionen von Zeitschriften, denkt nach, informiert sich, und dann stirbt man, und wenn man noch halbwegs klar ist, denkt man dabei bestimmt auch an all die verlorene Zeit“ (Seite 390, Proust lässt grüßen) Bitte jetzt nicht von diesem Zitat deprimiert sein. Das Buch ist ein ganz großer Schatz und wenn ich mir einmal anmaßen könnte, von Weltliteratur zu sprechen, würde ich dieses Buch dazu zählen.
Das Buch handelt von den Schmerzen der Zeit, von der Vergänglichkeit, von der Sinnlosigkeit des Daseins und ist gleichwohl eine philosophische Meisterleistung. Ich kann nur den Hut ziehen vor so viel Belesenheit, Weltklugheit und Erkenntnis. Die "Hauptperson“ des Romans, der Architekt und Baulöwe Rubèn Bertomeo, jetzt weit in den Siebzigern, reflektiert sein Leben und hier vor allem sein Job als einer, der den Küstenstrich irgendwo zwischen Valencia und Almèria an der Mittelmeerküste so horrormäßig zu betoniert. Benidorm oder Torremolinos sind sicher die Topadressen dieser Landschaftsverbrechen, aber Rubèn versteht es, sich zu positionieren. Er zieht grade, pragmatische Konsequenzen in und aus seinem Leben und steht so meilenweit, weil durch diverse Umstände bei den anderen Protagonisten die Bodenhaftung fehlt, über den Dingen. Es macht ihn auch nicht unsympathisch, wenn er seinen Mann fürs Grobe, Roman Collado, durch einen fingierten Unfall, mafiös ausschaltet. Collado ist einer der großen Loser  im Umfeld des Magnaten Bertomeo, ebenso wie sein früherer Kampf- und Weggefährte Frederico Brouard, der sich als schwuler Säufer, mit zweifelhaften literarischen Erfolgen, die Birne am Ende seines Lebens zudröhnt. Warum Krematorium? Irgendwie sind alle auf dem Weg zu dieser Feuerbestattung, denn Matìas ist gestorben, der jüngere Bruder von Rubèn. Durch dessen Tod stellt sich alles in Frage und jeder reflektiert und muss sehen, wie er nun zurecht kommt. Sylvia, unglückliche Tochter von Ruben mit ihren schwachbrüstigen oder schon crackigen Kindern; Sylvias Mann Juan, eitler Literaturprofessor und Brouard, der suizidale Schriftsteller; keiner kann dem großen Rubèn Bertomeo das Wasser reichen. Außer vielleicht Monica, die Vertreterin des neureichen Spaniens, ausgestattet mit einer Vorliebe für Marken und teuren Nippes und über 40 Jahre jünger als Rubèn, erst seine Geliebte und jetzige Ehefrau. Zielsicher geht sie Ihren Weg, den alle nie wirklich gefunden haben und sie weiß genau wo, mit welchen Mitteln, sie z.B. Sylvia fertig machen kann. Das alles vor dem Hintergrund, einer hitzedurchsiedeten, kaputten Küste, bei dessen Beschreibung es fast schon schwer fällt, zu atmen. Dazu noch die stetige, zunehmende Einflussnahme des russischen Geldes, das, wie wir wissen, unerschöpflich scheint. Verloren die Zeit der einsamen Strandspaziergänge mit tiefen, ruhigen Gesprächen, keine spanische Taverne mehr mit mediterraner Leichtigkeit – nur stickige, staubige Luft, erfüllt von Baggern und Raupen, die letzte Olivenhaine planieren um eine Illusion aufrechtzuerhalten: das Häuschen am Mittelmeer. Vergessen wir es. Der Roman ist prall, obsessiv und sexdurchtränkt. Der Roman ist hoch philosophisch hoch intellektuell. Der Roman ist eine Reise durch die Kunst-, Architektur und Musikgeschichte. Der Roman ist einsame Klasse.

 

Sieben Seiten der Wahrheit
Elliot Perlman, Verlag DVA

"Simon war ein Mann von überdurchschnittlicher Intelligenz, die durch jahrelange extensive und intensive Lektüre geschult war, ein Mann mit nicht unangenehm anzuschauenden Gesicht und einer gewissen Empfänglichkeit für die machtvollen Winde und schwachbrüstigen Brisen, welche die Welt bewegen, ein Mann, der sensibel war, nicht nur für die Nöte der Masse Mensch, sondern auch für das Leiden des Mannes, der in Hemdsärmeln zur Mittagszeit über die gefallenen Blätter im Stadtpark schlendert, der verzweifelt versucht, bei jedem schwachen, schüchternen Atemzug seine eigene lauwarme Bedeutungslosigkeit in Schach zu halten". Kann ich die Hauptperson dieses Romans besser beschreiben als er sich selbst? (bzw. durch den Autor Elliot Pilgrim?) Dieses Zitat findet sich auf Seite 587 dieses Wälzers, der bei 861 Seiten endet und zumindest den Anspruch erhebt, ein großartiger Gesellschaftsroman zu sein.

Wir kennen die Lichtgestalten der vergangenen (literarischen) Epochen. Goethes "Werther": ein intelligenter, hochsensibler, schwärmerischer junger Mann - schreibt im ausgehenden 18. Jahrhundert seinem Freund Wilhelm Briefe, in denen er ihm sein Seelenleben öffnet, seine Begeisterung über Liebe und Natur, und nicht zuletzt seine Verzweiflung über die Aussichtslosigkeit der Liebe und über gesellschaftliche Zurücksetzungen. Werther verliebt sich in Lotte, (bei Pilgrim Anna) die zumindest seine Liebe für Literatur und Lyrik erwidert. Holden Caulfield, der "Fänger im Roggen" von Salinger, auch ein Mensch der an den gesellschaftlichen Verhältnisses zerbricht und nicht zuletzt Kleists Michael Kohlhaas, der durch seinen verzweifelten Kampf gegen das System riskiert, alles zu verlieren, was ihm wertvoll ist.

Sie alle mögen Vorbild sein für die Gestalt Simon Heywood, die Elliot Pilgrim mit großer Sensibilität zeichnet. Er wird nicht müde, die oben beschriebenen Eigenschaften immer wieder Simon zuzuordnen, aber wer das ganze Buch, also die sieben Seiten der Wahrheit verstehen will, der sollte vielleicht folgendes Konstrukt verfolgen:
nehmen wir an, es gäbe eine Familie (alles fiktiv) mit einem Vater, Mutter, zwei ältere Geschwister, sagen wir 20 und 22 Jahre und einen Nachzügler mit Down-Syndrom. Dieser stirbt im Alter von 18 und alle Beteiligten schreiben nun ihre (ehrliche) Befindlichkeit auf. Der Vater beklagt sich, dass er, seit der behinderte Sohn auf die Welt gekommen ist, keinen Sex mehr mit seiner Frau hatte; diese, voller Schuldgefühle, kümmert sich obsessiv um den behinderten Sohn und lässt vor allem in der Pupertät ihre Tochter aus den Augen, die jetzt zugibt, nach so langer Zeit der familiären Tyrannei, froh zu sein, dass der junge Bruder tot ist; der älteste Sohn ist auf die schiefe Bahn geraten, hat ein Drogenproblem und hasst den Vater und dessen junge Geliebte bis aufs Messer, weil er ihm an allem die Schuld gibt. Dann gäbe es, nehmen wir weiter an, noch einen Familientherapeuten, der aber insgeheim hofft, die durchaus noch attraktive Mutter, noch mal aus erotischer Sicht zu gewinnen. In einzelnen Kapiteln schreiben also alle ihre Sichtweise dieses Familiendramas auf, berücksichtigen Zeiten und gesellschaftliche Hintergründe und wir fügen das zusammen zu einem Buch. Tja, warum bin ich nicht selbst darauf gekommen?

Bei Pilgrim ist der auslösende Focus eine Art Entführung, um die sich eigentlich alles entwickelt. Simon, ist die Zeit scheiß egal, er kann sich tagelang in seiner Wohnung einschließen und auf die Uhr starren, ohne dass ihm bewusst ist, dass "Zeit" vergeht. Nach zehn Jahren nutzt er eine Gelegenheit, zur Entführung des Sohnes seiner früher von ihm angebeteten Anna, die ihn wirklich seit zehn Jahren auch nicht mehr gesehen hat. Wie man nun ahnt, kommen nun viele Beteiligte ins Spiel, die alle dieses Drama aus ihrer Sicht beschreiben. Simons Psychotherapeut, Anna und ihr aktueller Mann Joe, dessen Arbeitskollege Mitch, eine verbindendes "Element" namens Angela (Prostituierte) und am Ende (etwas langatmig) noch die Tochter des Therapeuten, die so eine Art Klammer bietet, um das Buch "zusammenzuhalten". Alles in allem erinnerte mich das Buch an meine Begeisterung für John Updike (Rabbit) und Frantzen (Korrekturen). Auch mit Richard Fords "Die Lage des Landes" spielt das Buch durchaus in einer Liga. Allerdings bleibt am Ende des Tages ein eigentümliches "happy end" übrig, also etwas, was Goethe, Kleist oder Salinger nicht eingefallen wäre. Insofern doch keine Weltliteratur? Ich würde nicht ganz so weit gehen, aber das Buch empfehlen.

 

Der Chinese
Henning Mankell  Verlag Zsolnay

Von Mankell wird man, auch wenn es stärkere oder vermeintlich (subjektiv) schwächere Bücher waren, eigentlich nie enttäuscht. "Die Tiefe" oder z.B. "Der Chronist der Winde" gingen mir nicht so nahe, aber ich kann mich natürlich noch genau an die ersten Wallanderbücher erinnern, die bei mir mit "Die fünfte Frau" starteten. Es sind viele Jahre ins Land gegangen und Henning Mankell ist lange noch nicht fertig mit dem, was er uns sagen will. Der große Marcel Reich Ranicki sagte einmal sinngemäß "Das Dumme am Tod ist, das ich die ganzen Bücher die noch kommen werden, nicht mehr lesen kann". Ich willl das mal mit Mankell erweitern und ein fiktives Zitat konstruieren. Dann würde Mankell demzufolge sagen: "Das Dumme am Tod ist, dass ich noch so viel mitzuteilen habe, und das dann nicht mehr kann." Was macht er aus dieser Erkenntnis heraus? Er schreibt mit "Der Chinese" gleich ein Buch, das Stoff für drei Romane hergibt. Dazu überhäuft er uns mit (überraschenden) Informationen, die sowohl historisch als auch aktuell nicht nur hochinteressant daherkommen, sondern auch manches Weltbild ins Wanken bringen könnte.
Gut, der Bau der quer durch den Kontinent stoßenden Eisenbahnlinien in Nordamerika, bei dem Sklaven aus allen Teilen der Welt an die Hacke gemartert wurden, ist vielleicht nicht neu, aber das so viele Chinesen dabei waren überrascht doch. Manchmal erinnerte es an das Buch "Schnee, der auf Zedern fällt". Da ging es nicht um Chinesen sondern um Japaner die in KZ - ähnlichen Lagern gehalten wurden (wer wusste das vorher?) um bei der Erdbeerernte im Nordwesten der USA zu helfen. (Bei dem Buch ging es auch um ein weit zurückliegendes Verbrechen aus dem Pazifikkrieg) "Der Chinese" muss nun herhalten um uns über das neue China (beängstigend logisch) aufzuklären, es geht um Afrika und auch aktuell um Robert Mugawe, der hier noch in einem milderen Licht dargestellt wird als heute, wo er (in den westlichen Medien) der afrikanische Horrordiktator schlechthin ist.
Und es geht natürlich wie bei Mankell um ein unglaublich brutales Verbrechen, welches gleich am Anfang schockt. Ein Dorf wird ausgemerzt und dieser Kriminalfall bewegt die schwedische Kriminalpolizei. Das ist der Krimi in dem Buch, der Rest ist (kultur-) politische Aufklärung über 140 Jahre, manchmal auch langatmig, vorgeführt durch, für die Sache genau konstruierte Personen. Manchmal kann man dann das Gefühl haben, die Figuren sind deshalb so polarisierend gezeichnet, damit auch immer klar ist, wer was und warum sagt. Das die etwas tiefer liegende Botschaft lauten könnte, Peking sei vielleicht doch nicht der richtige Ort für olympische Spiele, ist geschenkt. Aber wir werden nicht umhin kommen, und weiter mit Afrika und China so zu beschäftigen, wie es sich für diese Welt gehört. Jeder sechste Mensch ist schon Chinese und der will essen. Und der Afrikaner ist auf dem Weg nach Norden und holt sich zurück was es nicht mehr gibt.

 

Last lecture - die Lehren meines Lebens
Randy Pausch, Verlag C. Bertelsmann

Wie man sich selbst heilig spricht.
Auch wer sterbenskrank ist, und den Tod vor Augen hat, muss sich doch auch einer ganz profanen Kritik stellen. Denn wenn man meint, eine literarische, oder was immer damit gemeint ist, Duftnote zu hinterlassen - also dieses Buch veröffentlicht - in der Annahme, noch mal einen ganz großen Wurf gelandet zu haben, muss sich nicht wundern, wenn der Schuss nach hinten losgeht. So wie hier. Ich kann mir nicht helfen, dieses Buch ist so was von typisch amerikanisch und hat etwas klebriges - predigerhaftes an sich, dass ich oft sprachlos war, ob der Banalitäten, die Pausch und sein Co-Autor Jeffrey Zaslow hier von sich gegeben haben. Da stehen allen ernstes Sachen drin wie:
"Nur wer fragt, kriegt auch Antworten" oder "Mauern sind da, um überwunden zu werden" oder noch arger (und das Foto hat er sich extra aus der Zeitung ausgeschnitten) "Es ist das Foto einer Schwangeren, die gegen eine Baustelle im Ort protestierte. Sie war besorgt, dass der Lärm ihrem ungeborenen Kind schaden könnte. Zwischen den Fingern hielt sie eine Zigarette. Wenn sie sich Sorgen um ihr ungeborenes Kind machte, hätte sie die Zeit, die sie mit ihrem Protest gegen Presslufthämmer verbrachte, gewiss besser genutzt, wenn sie die Zigarette ausgemacht hätte"(!) Derlei rudimentäre Lebensweisheiten finden sich in einer unsagbaren Fülle. Dabei ist die Intention klar: Pausch macht sich die größte Sorge darüber, dass seine Kinder ihn irgendwie vergessen könnten. Und was ist er für ein toller Mann! Allerdings bewegt er sich im Buch meistenteils zwischen virtuellen Welten und Disneyparks. Pausch ist Technik-Professor und seine Welt, und die seiner Studenten, ist eben eine Virtuelle. Hier erfinden sie die animierten Computerspiele für die Kids, die dann auf ihre Computertasten einhämmern und durch virtuelle Universen rasen. (Um ihre Träume zu verwirklichen - echt, so stehts da) Pausch, so scheint mir, ist in einer amerikanischen Wattewelt aufgewachsen, und irgendwie kommt was anderes auch gar nicht vor. Da ist das behütete und übertolle Elternhaus - er hat nämlich  "in der Elternlotterie gewonnen" und noch den Jackpott geknackt - und er setzt das mit seiner Ehefrau Jai und seinen drei tollen Kindern fort. Jetzt kommt der Bauchspeicheldrüsenkrebs dazwischen. Man kann heute mit diesem mörderischen Krebs noch ein paar Jahre relativ gut leben, der Tod kommt aber fast hundertprozentig - aller Chemo und Bestrahlung zum Trotz. So, wie damit umgehen? Sterben ist ernste Angelegenheit und man kann es schlecht üben. Aber in diesem Fall wünschte ich mir eher den alten Indianer zurück, der, nach meiner träumerischen Vorstellung, wenn es soweit ist, einfach geht - und nichts mehr sagt. Pausch setzt seine Kinder mit dieser Autobiographie schon jetzt damit unter Druck, damit sie ihn irgendwann posthum heilig sprechen. Aber wie so oft, irgendwann wird die Zeit ein Ei darüber schlagen. Jai wird einen neuen Mann haben und die Kinder gucken sich vielleicht Bilder von ihrem Vater an - oder eben das Video von der "Last lecture" - und sich eventuell fragen, warum keiner "hallelujah", dazwischen gerufen hat.

 

Wer bin ich - und wenn ja wie viele?
Richard David Precht, Goldmann HC

Man könnte das Buch überschreiben mit einem wunderbaren Zitat von Isaac Newton: Was wir wissen, ist ein Tropfen - was wir nicht wissen ein Ozean. Nur um mal eine Alternative zu Sokrates zu nennen. Gut, das Buch ist gut lesbar, aber bei Licht besehen, gibt es für den, der sich beispielsweise auf den Wissenschaftsseiten von der "ZEIT" dem "Spiegel" oder der "Süddeutschen" tummelt, nicht viel Neues. Wenn man ganz gemein ist, könnte man ja sogar sagen, das stand alles schon so oder ähnlich, in GEO - Wissenschaft. Aber, und jetzt kommt das große "Aber": für den, der sich mangels einer wissenschaftlichen oder philosophische Ausbildung - oder sonst welche Studien mit Affinität zum Thema - immer mal wieder, aus reinem Wissensdurst, diesen Themen nähern will, eine Super Lektüre. Da ich ja genau zu diesem Klientel gehöre, kein Abitur, etc., aber eben interessiert am Lauf der Dinge und immer mit dem Bedürfnis, den Kopf über Wasser zu halten, habe ich dieses Buch doch genossen. Uns wird der Stand der Hirnforschung vorgestellt, ebenso wie die entscheidenden und aktuellen Aussagen von Philosophen und Wissenschaftlern früher und heute. Eben zu den Fragen die uns tatsächlich bewegen (sollten): wo komme ich her? Was mache ich hier? Und wo geht es hin? Fragen zur Umwelt-Ethik - dabei wichtig: warum müssen wir nur immer die Wale retten? - Sterbehilfe, mit guten Zusammenfassungen der aktuellen Diskussion, und was soll ich sagen: was ist Liebe, was passiert mit mir, usw.. Aber über allem steht immer wieder, je weiter wir in den einzelnen Kapiteln fortschreiten, dass wir tatsächlich so gut wie nichts wissen über die Vorgänge in unserem Hirn. Immer wieder kommt Precht zu dem Schluss, dass man nichts Genaues sagen kann, und es wohl eine Mischung aus allem ist. Nach dem Motto, das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Gut, dass ist jetzt auch schon dermaßen verwurstet worden, aber - im Zusammenhang mit diesem Buch - allemal richtig. Ich möchte ein kleines Zitat aus dem Buch, aus dem Kapitel über Liebe, verwenden, weil es mich doch zum schmunzeln brachte: "Der Verliebte sieht ein Lächeln, alle anderen eine Zahnlücke". Und wer wissen will, was da chemisch, seelisch, neurologisch abläuft, in einem Verliebten, der ist bei diesem Buch zu Hause. Aber nicht oder nie auf eine gültige Antwort hoffen. Auch zum immer mal wieder Nachschlagen geeignet, wenn mal auf einer Party einer mit Wittgenstein Zitaten oder Schopenhauer glänzen will, und man leicht zweifelt, ob der überhaupt irgendeine Ahnung hat und nur enzyklopädisches (oder Kreuzworträtsel-) Wissen reproduziert. Und man erfährt den Beweggrund, warum dieser Partylöwe an dieser Stelle so ist wie er ist. Aber ist es wirklich sein Wille?
Die Moral hält das Buch als roten Faden zusammen. Auf diese kommt Precht immer wieder und die angestoßenen Themen geben uns die Chance zur Reflektion.

 

Kind 44
Tom Rob Smith, dumont - Verlag

Ich bin nach wie vor fast sprachlos über dieses Buch und es ging mir ähnlich wie bei Cormac McCarthys - Die Strasse. So unvorstellbar grausam das alles, jegliche humanistischen Gefühle aus dem Hirn fegend. Eine schonungslose Abrechnung mit dem Stalinismus, der, wie wir heute wissen, dem Naziterror absolut gleich stand. Und wenn ich mir vorstelle, dass ich z. B. Michael Kumpfmüllers - Nachricht an alle - dann - Die Strasse - und zuletzt - Kind 44 - nacheinander gelesen hätte, wäre ich wohl in tiefe Depression verfallen; so viel Dunkelheit, Macht- und Hilflosigkeit, die alles überschattet. Unmenschlichkeit perfekt beschrieben, ein (Russ-)Land (hier in den frühen fünfziger Jahren), von einer perfiden Bespitzelungs- und Foltermaschinerie kontrolliert, in der das von dem "Staatschutzdiener" Leo, (später natürlich geschasst und gefoltert, bis kein Arzt mehr kommt) entdeckte Verbrechen, nämlich ein Serienmörder, der psychopathologisch strukturiert, Kinder schlachtet und die heraus getrennten Mägen, an seine Katzen verfüttert. Da das ja im Kommunismus gar nicht sein kann oder darf, hier sind ja a priori alle Menschen glücklich, wird der Jäger selbst zum Gejagten. Wie gesagt, ich wollte immer aufhören zu lesen, aber das Buch ist auch spannend, bei aller Unmenschlichkeit. Denn auch in der riesigen, von Hungersnöten und extremster Kälte gebeutelten Sowjetunion, gibt es eine Kraft oder eine Pflanze, zumindest hier prosaisch, die Hoffnung heißt. Dieser Durchhaltewille, der am Schluss zu einer Art - happy end - führt, und sogar ein wenig über Liebe erzählt, ist heute kaum nachvollziehbar, und sollte es, bei diesem extrem gut recherchierten Buch, tatsächlich Menschen wie Leo und Raisa (seine Frau) gegeben haben, dann bleibt doch immer ein Fünkchen Glauben, zwar nicht an einen Gott, so doch an oder für die Menschheit.

 

Ungeschoren
Arne Dahl, Piper Verlag

Nach wie vor ist Arne Dahl mein absoluter Favorit der - fast unüberschaubaren Zahl - nordischer Krimiautoren. Er ist einfach der Analytischste von allen, mit einer gehörigen Portion Wut auf die gesellschaftliche Dynamik im allgemeinen und ihrer Auswirkung auf die Polizeiarbeit (und hier in Schweden) im Besonderen. Immer wieder spickt er punktgenaue, politische Statements von unbestechlicher Logik in seine intelligent aufgebauten Krimis ein, die wiederum mit dem jeweiligen Fall und den eifrigen Akteuren im Polizeidienst, korrespondieren. Ein Zufall war, dass ich Michael Kumpfmüllers "Nachricht an alle" - eine hochdramatische - zwar fiktive, dadurch nicht weniger aktuelle -Beschreibung unseres wankenden Europas - gelesen habe. Es gibt viele überraschende Übereinstimmungen. Schön ist, dass es auch krimitechnisch immer spannend bleibt und uns dadurch Dahls gesellschaftliche Sicht der Dinge, nicht auf den Nerv geht. Zur Story:  es geht um eine Art Selbstjustiz, der man aber, weil kryptisch versteckt und mit Shakespeare ummantelt, erst sehr langsam auf die Spur kommt. Die Protagonisten haben bei Dahl immer eine Geschichte, die sich in seinen Romanen fortschreibt. Man ist gerne mit den Akteuren zusammen, weil man ihre Entwicklung kennt. Sowohl familiär, mit Schicksalsschlägen behaftet, als auch in der Karriere bei der Stockholmer Kripo. Allenfalls zum Ende hin wirkt der Fall ein wenig aufgesetzt und konstruiert - man hat im ganzen Buch kaum die Möglichkeit, sich auf einen "Verdächtigen" festzulegen. Aber insgesamt ist das auch nicht so wichtig. Ich empfehle nach wie vor immer, alles von Dahl zu lesen und zwar von Anfang an. man bleibt gesellschaftlich und politisch auf der Höhe - und wird gut unterhalten. Was will man mehr?

 

Nachricht an alle
Michael Kampfmüller, Verlag K&W

Wenn ich mir ein Buch vorstellen könnte, was in einen inspirierten, europäischen Oberstufen Sozialkundeunterricht gehört, dann ist es dieses Buch. Nachricht an alle ist das Buch, welches ich am liebsten selbst geschrieben hätte - und dies jetzt nicht mehr tun muss. Eine solch umfassende, europäische Gesellschaftsanalyse, vom heutigen, vom Ist - Zustand ausgehend, ist mir lange nicht mehr – wenn überhaupt- vorgekommen. Eventuell hätte ich es noch von dem Philosophie - und Medienprofessor Peter Sloterdijk erwartet, aber der wäre wieder mal zu sehr über den Kopf gegangen. Ebenso die immer wieder in den einschlägigen Gazetten zitierten Soziologen wie Hurrelmann und Ulrich Beck (Die ZEIT), die schon Ewigkeiten warnen und nie Gehör finden.
Jetzt ist aber Michael Kampfmüller ein Rundumschlag gelungen, dem sich keiner entziehen kann, sollte er dieses Werk anfangen zu lesen. Ich würde mal ein Bild gebrauchen wollen: wir kennen doch alle diese science fiction Filme, (oder meinetwegen auch U-Boot Katastrophen) wo der Kapitän an Bildschirmen sitzt, Befehle rumschreit, und aus allen Ecken des Schiffes –mayday, mayday – gemeldet wird. Überall brennt es und in der Leitzentrale ist man dabei, die notwendigsten Löcher zu stopfen, hier mal einen Brand auszutreten, und dort einen ganzen Flügel zu opfern. Eigentlich sieht keiner mehr einen Sinn, wie und ob es weitergehen soll, es fehlt ein Gesamtkonzept zur Rettung des Schiffes. Zu allem Überfluss ist man sich in der Leitzentrale gerade mal völlig uneinig, wer nun am Steuer stehen soll und in welche Richtung es geht. Man streitet sich lieber über Pfründe, Posten und Privilegien. Kurz: es ist das normale Europa von heute.
In einem fiktiven Staat, manchmal denkt man ihn sich eher im Süden, dann mal wieder im Norden, mal wähnt man sich in irgendeiner aufstrebenden ehemaligen Ostrepublik,  begleiten wir einen ebenso fiktiven Innenminister bei einem vergeblichen Versuch, den Kopf über Wasser zu halten.  Wir durchdringen privates und politisches und sind am Ende auch nicht mehr in der Lage irgendwas auseinander zu halten. Man könnte meinen, zum Ende des Buches sind wir genug gequält worden, nein, dann kommt noch der ukrainische Mädchenhandel dazu und das Klima sowieso. Aber Kampfmüller addiert die jeweiligen Katastrophen nicht, er webt sie geschickt zusammen. Alles hat mit allem zu tun, keiner kann sich entziehen.
Eine letzte Warnung an ein zusammenbrechendes Europa, welches sich über die Grundproblematiken noch gar nicht im Klaren ist! Nämlich dem vollständigen Versagen (zumindest in Deutschland) dreier Säulen der Demokratie: die Bildungspolitik, die Familienpolitik und die Migrationspolitik. Dazu die allgegenwärtige Verdummungsmaschine: Fernsehen! Die gesellschaftliche Dynamik ist der Legislative und der Exekutive um Jahre voraus und in den besagten Kommandoständen herrscht, wie oben beschrieben, Ratlosigkeit. Und wer die am besten kaschieren kann, der wird für vier Jahre gewählt und hat seine Rente sicher. Und nach diesem Buch wissen wir überdeutlich, dass Politiker eigentlich auch nichts anderes interessiert.

 

Kalte Asche
Simon Becket, Verlag Wunderlich

Eine der ganz großen Enttäuschungen im Frühjahr. Habe ich noch bei seiner –Chemie des Todes – vorsichtig geurteilt und allenfalls diese komische, gestelzte Sprache in Frage gestellt, so nervt jetzt einfach alles an dieser Fortsetzung - und zwar von Anfang an. Der Plot ist dem des Vorbuches so ähnlich, dass es absolut ärgerlich ist. Die Figuren sind so eindimensional charakterisiert, dass man gleich erkennt, wo die (falschen) Fährten gelegt wurden. Die haarsträubenden Überlebenskämpfe des forensischen Pathologen Dr. Michael Hunter sind so lächerlich, dass es nervt. Leider geht auch noch das unter, was – die Chemie des Todes- halbwegs interessant gemacht hat: nämlich die langsame Annährung an Spuren eines Verbrechens aus dem Blickwinkel des Spezialisten. Dafür wird wieder das ganze Dorf zur kollektiven Fratze, und weil es die letzte Insel auf den äußeren Hebriden ist, herrscht auch das ganze Buch lang ein unglaubliches Unwetter mit den üblichen Stromausfällen und kaum vorstellbaren fehlenden Kontakten zum Festland. Ein seltsam anmutendes Buch, welches in seinem Duktus anfängerhaft daher kommt und in dem natürlich dieser folgenschwere Satz nicht fehlen darf: Welcher Mensch macht so etwas? Dazu die Antwort: Verdammt!

 

In 180 Tagen um die Welt
Matthias Politycki, marebuchverlag

Ehrlich, lange nicht mehr so gelacht. Ich glaube, ein Buch das mich in ähnlich gute Laune versetzt hat, war diese Tourismus Satire MOLWANIEN – Land des schadhaften Lächelns. Hier wurde köstlich über den Reiseführerwahn hergezogen.
Jetzt liegt - das Logbuch des Herrn Johann Gottlieb Fichtl – vor. Hintergrund: eine Tippgemeinschaft gewinnt einen Volltreffer, aber richtig viel kommt nicht dabei rum. Man beschließt, einen aus der Runde, per Los, auf die MS Europa zu schicken, der dann eine Weltreise antreten darf. Nun muss man wissen, dass die MS Europa, das angeblich am besten bewertete Kreuzfahrtschiff der Welt ist. Und dann eben entsprechend teuer ist und das sich der gewöhnlich Sterbliche normalerweise auch nicht leisten kann. Und schon fängt die Satire an. Schon vom ersten Tag wird fein beobachtet, man taxiert sich gegenseitig, ob man ein ganz Großer ist, oder sonst wie zu Geld gekommen ist.  Das einer irgendwie arm sein kann, kommt in dieser Welt gar nicht vor. Aber entsprechend lustig ist das alles aufgearbeitet. Wir lernen die skurrilsten Ticks der Mitreisenden kennen und unser Fichtl ist die ganze Zeit in der Lage, seinen Dunstkreis geheim zu halten. Fortan ist er  der Herr Doktor. Und als solcher natürlich, weil vermeintlich ein ganz Großer, gehört er ab sofort dazu.

Also ab auf Weltreise. Jetzt könnte man vermuten, wir lernen die unglaublichsten Sehenswürdigkeiten kennen, die so ein Schiff auf Weltreise quasi nebenbei einsammelt. Nein, die werden irgendwann beliebig und man sehnt sich nach den Landgängen ganz schnell wieder zur Hütte (MS Europa) zurück. Toll wie der Autor die Weltwunder liegen lässt und sich der Psyche von diesem Kreuzfahrtklientel nähert: - ist das schon eine Ruine oder ist das noch ein Neubau? –

Überdeutlich wird nach 180 Tagen Weltreise, dass die Welt eigentlich für den MS Europa Kreuzfahrer völlig uninteressant ist. Wichtig ist, dass man die Nadel bekommt für 150, 300 nein bis zu 2000 Tagen auf dem Schiff. Es gibt Menschen dort, die eigentlich gar nicht mehr woanders leben können oder wollen. Und uns sollte klar werden, dass diese Form von Reisen nichts damit zu tun hat – Land und Leute – kennen zu lernen, sondern sich darin zu aalen, zur Kreuzfahrtfamilie zu gehören. Die den Eingeborenen am liebsten als folkloristischen Schatten in Erinnerung behält und der sich zu hause bei der Diashow dann fragt, wie kommt das Taj Mahal gezz in die Tüte Mikronesien? Ach ist auch scheiß egal. Eben.

 

Der grosse Jäger
Xavier-Marie Bonnot, Zsolnay

-Schüsse aus der Steinzeit- an diesen anthropologischen Krimi mit indianischen Mystik - Hintergrund fühlte ich mich erinnert. Tony Hillermann`s, im Navajo/Zuni/Hopi Reservaten spielende Romane, nehmen ganz ähnlich Bezug auf urgeschichtliche Legenden, Mythen und Traditionen. Am Ende kommt dann doch meist ein simpler Rachemord, Serienkiller oder was immer dabei raus, aber der Weg dahin ist durchweg spannend. So auch hier. Ein neuer Ermittler wird uns hier präsentiert. Commandant – der Baron - Michel de Palma. (hat man nicht gleich Brian de Palma`s – dressed to kill - im Kopf? Super spannender Filmklassiker) Er ist die neue Superspürnase dieses Marseille-Provence Krimis, der mit historischen Funden spielt (die Le - Guen Höhle), mit steinzeitlichen Waffen und aktuellen Gaunereien und Meucheleien. Ein Ritusmörder will aufgespürt werden und es ist an Michel de Palma, dem Baron, und seinem Team, die Zusammenhänge zu erahnen, zu ertasten. Das ist gut gemacht, manchmal möchte man mit einer Stadtkarte von Marseille oder einer Karte der Provence, die Fahrten der Ermittler begleiten. Da die Le Guen Höhle ja erst vor ein paar Jahren entdeckt wurde – der Eingang liegt heute weit unter dem Meeresspiegel, werden uns auch die Phänomene ZEIT und KLIMA näher gebracht. Will sagen, als der gemeine Cro - Magnon Mensch seine urgeschichtlichen Wandmalereien auf den Höhlenwänden hinterließ, war der Mittelmeerpegel um die 40 Meter tiefer. Man nimmt sich fast vor, die Gegend mit dem schönen Namen Calenque de Sugiton beim nächsten Provencebesuch nicht auszulassen. Und Michel de Palma hat viel Ähnlichkeit mit Fred Vargas Chefermittler Adamsberg. Und nicht nur mit dem. Es scheint heute en vogue zu sein, diesen Figuren eine brüchige Vita zu geben, eine Vorliebe für klassische Musik und natürlich die übliche gescheiterte Beziehung. Sie trinken gern, sind aber eher Desperados und arbeiten nach Instinkt. Egal, ich habe das Buch gerne gelesen und würde auch den nächsten Roman wieder zu mir nehmen.

 

Im Namen der Toten
Ian Rankin, Manhatten - Verlag

Ach ja, John Rebus, dieser Edinburgher Haudegen, dieser - fast- Alki im - Nochpolizeidienst -. Immer am Rand, immer nach dem nächsten Pint schielend, ein letzter, als Detective verkleideter Cowboy. Ich wundere mich, wie ein noch so junger Mann wie Ian Rankin, schon so viele dicke Rebus Romane geschrieben haben konnte. Ein Hilfs- oder Stilmittel ist natürlich, dass sich Metaphern, Verhaltensweisen, Sprüche, oder der gesamte Auftritt von Rebus, immer gleichen. Man wünscht sich langsam, Rebus sollte zur Ruhe kommen. Er ist auch der Rente nah und die ganze schottische Polizei, so scheint es, sehnt sich danach, dass er sich endlich die Karten legt und abtritt. Vorher hat er noch einen mystischen Fall zu lösen, eine verwickelte Sache aus vermeintlichen Serienmord und nackter Rache, aus Globalisierungstreffentheater und multinationalen, (Mafia -) Waffengeschäften von weltweit agierenden Konzernen. Es ist ziemlich schwer den Überblick zu behalten, vor allem bei den vielen englischen Namen die im Laufe des Romans so auftauchen, manchmal fühlte ich mich an Loriot erinnert.
Natürlich sammelt er fleißig Sympathiepunkte, sind doch seine Widersacher, seien sie im Polizeidienst oder eben die üblichen Halunken, eigentlich alles Arschlöcher. Bis auf seine süße Siobhan, die Rankin evtl. als neue Protagonistin aufbauen will. Seis drum, der politische Hintergrund ist politisch und manchmal satirisch wunderbar erfasst. Das G8 treffen von Gleneagles im Jahre 2005. Die Absperrmaßnahmen, die Globalisierungsgegner, die Konzerte; es taucht mal nebenbei bei seiner morgendlichen Fitnessübungen Dabbelju Bush auf, oder auch diverse Pop -und Rockstars. Man erinnert sich an das eigene, sprachlose Entsetzen nach den U-Bahn und Busanschlägen in London.
Und an die, wie überall auf der Welt, als Nächstenliebe verkleidete Korruption von Kirchenmännern und Honoratioren.
Man darf das Buch nicht so oft weglegen - eher ist lesen in einem Zug angesagt.
John Rebus ist am Ende des Tages wieder der einsame Wolf, der sich, im seltsamen Zwischenstadium von Melancholie und Altersweisheit, zu oft die Kante gibt.

 

Der Junge im gestreiften Pyjama
John Boyne, Fischer-Verlag

Ich bin immer noch sehr verstimmt über das Buch. Es gab sehr zwiespältige Eindrücke und wenn ich mich zu einem Gesamturteil durchringen müsste, dann: "Thema verfehlt“ mit der Begründung, der Autor zeigt einen Hang zur Verniedlichung
eines für immer unfassbaren Geschehens. Nämlich der Judenausrottung, die Existenz von KZs und Herrenrassenideologien., etc….
Mich störte schon von Anfang an, dass die Hauptperson, nämlich Bruno, 9 Jahre, aufgewachsen in einem reichen Haushalt in Berlin, aber offensichtlich mit deutsch nationalen, militaristischen Hintergrund, als der Vater KZ Kommandant in Ausschwitz wird (warum hier immer "Aus-wisch“ oder "Furer“ anstelle von Führer geschrieben wird, hat sich mir nicht erschlossen), sich so unvorstellbar naiv gebärdet, obwohl er an sich ein hoch intelligenter Junge ist. Beklemmend arm wird hier eine Geschichte konstruiert, in der Bruno, völlig ahnungslos, auf die Menschen hinter dem Zaun blickt, staunend, über das was da so abläuft, dann sogar noch am Zaun entlang katappert und einen Jungen von der anderen Seite kennen lernt, und sogar mit diesem Freundschaft schließt. Wie selbstverständlich gibt es da eine Möglichkeit, zwischen diesen beiden unvorstellbaren Welten durch ein Loch im Zaun hin und her zu wandeln, was ihm dann letztendlich doch zum Verhängnis wird. Weil, und das ist dann der Höhepunkt, er plötzlich Läuse kriegt, eine Glatze rasiert bekommt, und dies nutzt, um die Familie seines Freundes "Hinter dem Zaun“ kennen lernen zu können.
Hier kommt er dann nicht mehr raus und ein trauernder Vater (immerhin KZ Kommandant) kriegt Depressionen. Was soll das sein? Ein Gleichnis? Eine Parabel? Nein, ich bin mit dem Buch nicht einverstanden.

 

TOUCH DOWN
John Grisham, Heyne

Bei Borussia Dortmund gab es in den Siebzigern ein Auswärtsspiel in Mönchengladbach. Der BVB verlor 11:0. Im Tor stand, zum ersten und einzigen Mal in seinem Leben in einem Bundesligaspiel, der bedauernswerte Peter Endrulat.
Der bekam danach in Deutschland kein Bein mehr an die Erde, war Gegenstand von Häme, und wenn ich, weil ich auch mein Leben lang schon im Tor spiele, damals mal so ein Ei reingekriegt habe, dann war ich sofort fürs Volk der "E – E – Endrulat“.
Mehr muss man zu dem Buch gar nicht wissen. Hauptperson ist ein NFL Profi, der als Quarterback, durch drei Fehlwürfe in 10 Minuten, seinem Cleveland Profiteam den sicher geglaubten Superbowl versaut hat. Er kommt, oder flieht, über Umwege nach Italien, in ein Fußballland schlechthin, wo es tatsächlich so eine Art ambitionierte Football Hobbyliga gibt, und spielt fortan für die Parma Panthers. Das hat alles etwas von einem  Jugendbuch und einem italienischen Reiseführer. Parma muss ganz schön sein und Rick bleibt am Ende glücklich in Italien und beim leckeren Essen, wird Freund der italienischen Oper und der Geschichte und findet noch die Frau fürs Leben und, das fehlte ja auch noch, gewinnt den italienischen Superbowl. Ich sehe das schon als Teeniefilm. In der Hauptrolle Matt Damon als Rick und Tom Hanks als ebenfalls assimilierter Ami in Parma als sein Trainer und das Mädel, die ihn letztendlich aufreißt und ihm italienische Baukunst und Geschichte beibringt, muss Keira Knightley aus Fluch der Karibik, sein. Und wenn sie nicht gestorben sind…

 

VERBLENUNG (und VERDAMMNIS)
Stieg Larsson, Heyne

Es ist schon seltsam, warum so viele gute Krimiautoren aus Schweden kommen.
An Larsson kommt man eigentlich auch nicht vorbei. Ich würde mal das nachfolgende Buch  -Verdammnis- mit einbeziehen, denn die beiden Romane bauen aufeinander auf. Man sollte also unbedingt Verblendung vor Verdammnis lesen, denn dann bekommt man ein noch größeres Gespür für die Hauptpersonen und deren Hintergründe. Ich will die Bücher jetzt mal nicht kritisieren, empfehle sie aber als Genuss ohne Reue. Was mir auffiel, sind autobiographische Züge:
Larsson sieht sich wohl als der Mikael –Kalle- Blomquist, der irgendwann in seinem Leben ein faszinierendes Lebewesen kennen gelernt hat, und das er durch seine Romane streifen lässt, wie eine mythische Gestalt. Ausgestattet mit übersinnlichen Kräften, wobei das fotografische Gedächtnis der Lisbeth Salander, so heißt diese Frau (obwohl diese Bezeichnung den Kern der Sache auch nicht trifft) nur einen kleinen Teil Ihrer Fähigkeiten ausmacht. Lisbeth ist Astrophysikerin oder Mathegenie, ist Kickboxerin, Top Hackerin und kann von den Toten auferstehen. Das ist manchmal ein wenig viel und nimmt den gut recherchierten Geschichten, mit den ganzen Schweinen die sonst so vorkommen, ein wenig den drive. Aber wie gesagt, wer die schwedischen Krimis mag, z.B., von Arne Dahl oder Mankell, der wird diese Bücher auch mögen. Inhaltlich kommen da die großen üblichen Gaunereien vor, riesige Wirtschaftsverbrechen, Mafia, Menschenhandel. Aber dank der Computerdaten - Rechercheleistungen von Wunderkind Lisbeth, werden alle mehr oder weniger zur Strecke gebracht.